Ein praxisbezogenes Übersichtsbuch zur Ethik in der Psychiatrie

Horizonte
Édition
2018/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06298
Bull Med Suisses. 2018;99(09):290-291

Affiliations
a PD Dr. med. Dr. phil., Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Psychiatriezentrum Münsingen b MSc, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte

Publié le 28.02.2018

Jochen Vollmann (Hrsg.)
Mitarbeit: Jakov Gather und Astrid Gieselmann
Ethik in der Psychiatrie – Ein Praxisbuch
Köln: Psychiatrie-Verlag; 2017.
239 S. 41.95 CHF.
ISBN 978-3-88414-666-8
Sowohl in der Medizin als auch im öffentlichen Diskurs sind ethisch herausfordernde Themen der Psychiatrie und Psychotherapie immer wieder ein Thema. Unsere Gesellschaft und die Psychiatrie als Institution sind untrennbar miteinander verbunden, weshalb in der Psychiatrie tätige Fachpersonen für ethische Spannungsfelder sensibilisiert sein sollten. Was ist die Rolle eines Psychiaters? Was darf die Psychiatrie als Institution und wie begegnet sie den unterschiedlichen Anforderungen von Patienten und Gesellschaft, die an sie gestellt werden? Konkret zum Beispiel: Wann dürfen oder müssen Massnahmen gegen den Willen eines ­Patienten durchgeführt werden und zum Schutz von wem geschieht dies?

Eine Lücke wird geschlossen

Tatsächlich ist die Vorstellung, dass psychische Störungen erfolgreich behandelt und oftmals auch geheilt werden können, historisch relativ neu und hat sich erst seit der Aufklärung in der westlichen Welt durchgesetzt. Aufgrund der Wichtigkeit und Brisanz ethischer Fragen in der Psychiatrie und insbesondere deren dunkler Vergangenheit in Europa erstaunt es, dass im deutschsprachigen Raum bis vor kurzem kein übersichtliches Buch zum Thema Ethik in der Psychiatrie verfügbar war. Diese Lücke haben Jochen Vollmann – Professor und Leiter des Instituts für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin an der Ruhr-Universität Bochum – und seine Mitarbeiter nun geschlossen.

Gliederung

Das Buch gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil ­werden praxisrelevante Grundlagen zu klassischen Themen der Psychiatrie-Ethik wie Autonomie und Paternalismus, Selbstbestimmungsfähigkeit und Zwang diskutiert. Der zweite Teil widmet sich Themen, die in der Praxis immer wieder intensiv diskutiert werden, beispielsweise Suizidalität und ihre Prävention, der Umgang mit Interessenkonflikten und Zwangsmassnahmen. Im dritten Teil werden Perspektiven zur Verbesserung der klinischen Versorgung aufgezeigt, indem die Autoren auf innovative neuere Konzepte eingehen: Genesungsbegleitung, offene Psychiatrie, Vorausverfügungen und klinische Ethikberatung. Im vierten und letzten Teil des Buches werden schliesslich Fallbeispiele zu verschiedenen ethischen Fragen aus unterschiedlichen Bereichen des psychiatrischen Versorgungssystems vorgestellt und diskutiert.

Zielgruppe: Fachpersonen in der Praxis

Das Buch hat den Untertitel «Ein Praxisbuch» und richtet sich primär an Fachpersonen in der Praxis. Es vermeidet einen zu akademischen Zugang zu den verschiedenen Themen. Jochen Vollmann schreibt im Vorwort denn auch, dass die meisten Autoren keine ausgebil­deten Medizinethiker sind, sondern in verschiedenen Gesundheitsberufen in der psychiatrischen Praxis tätig sind und es deshalb manchmal eine Herausforderung war, die ethischen Aspekte bei den jeweiligen Fachbeiträgen herauszuarbeiten. Das vorliegende Praxisbuch versteht sich somit auch als ein Resultat dieses Ko­operations- und Kommunikationsversuches zwischen Theorie und Praxis.
Aufgrund der verschiedenen Kapitelautoren gibt es zwischen den einzelnen Kapiteln denn auch Redundanzen und Qualitätsunterschiede. Folgende Kapitel stechen aufgrund ihrer Qualität und Praxisrelevanz besonders heraus: «Zwangsbehandlungen und Zwangsmassnahmen», «Suizidalität», «Umgang mit Interessenkonflikten» und «Konsiliarpsychiatrie: Ethische Fragestellungen an der Schnittstelle von psychia­trischer und somatischer Praxis».

Ein paar wichtige Themen fehlen

Es bleibt anzumerken, dass einige wichtige Themen der Psychiatrie-Ethik fehlen oder nur am Rande erwähnt werden; so beispielsweise ethische Aspekte der Beziehung zwischen Patient und Psychiater, der Umgang mit Behandlungsfehlern und moralischen Verfehlungen psychiatrischer Fachpersonen oder die besonderen ethischen Herausforderungen in der Behandlung von schwer und chronisch psychiatrisch erkrankten Patienten, bei denen herkömmliche Therapiekonzepte scheitern. Diese könnten allenfalls in einer zweiten Auflage berücksichtigt werden.

Fazit

Alles in allem ist dieses Werk ein gut verständliches, kompaktes und praxisbezogenes Übersichtsbuch zu ethischen Fragestellungen in der Psychiatrie, das zur ­Reflexion des eigenen ärztlichen Handelns und zur Diskussion ethisch relevanter Fragestellungen im Alltag ­anregt.
PD Dr. med. Dr. phil.
Manuel Trachsel
Universität Zürich
Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte
Winterthurerstrasse 30
CH-8006 Zürich
manuel.trachsel[at]uzh.ch