Porträt über Josef Flammer

Wie ein kalter Händedruck 
Medizingeschichte schrieb

Horizonte
Édition
2018/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06244
Bull Med Suisses. 2018;99(04):118-120

Affiliations
Dr. med., Dr. phil., Facharzt für Augenheilkunde, Medizinhistoriker und Journalist

Publié le 24.01.2018

An die erste Patientin mit dieser ganz speziellen Sym­ptomatik erinnert sich Professor Josef Flammer noch genau. Es war Anfang der 1980er Jahre, und Flammer war Assistent an der Universitätsaugenklinik in Bern: «Sie war Mitte Vierzig und hatte ein Normaldruckglaukom. Besonders auffallend: Sie hatte sehr kalte Extremitäten, und wir begannen uns zu fragen, ob es ­einen Zusammenhang mit dem Augenbefund gab. Wir fanden bei einer Spezialuntersuchung ihrer Hände, einer Kapillarmikroskopie bei den angio­logischen Kollegen, schnell heraus, dass sie unter sogenannten Vasospasmen litt: Die kleinen Blutgefäs­se in der Peripherie – das können die Finger sein oder auch das Ohr, das Auge – krampfen sich als Reaktion auf einen Stimulus wie Kälte oder Stress regelrecht zusammen.»
Er erkannte bei seiner Patientin den Zusammenhang ­zwischen ihrem kalten Händedruck und dem Normaldruck­glaukom: Prof. em. Dr. Josef Flammer.
Flammer konnte nicht ahnen, dass der vermeintliche Nebenbefund, der ihm bereits aufgefallen war, als er die Patientin mit einem Händedruck willkommen ­geheissen hatte, ihn auf eine Spur führte, die in sein wissenschaftliches und klinisches Lebenswerk mündete – und dazu, dass er zur seltenen Spezies von Me­dizinern wurde, die bereits zu Lebzeiten mit einem ­ihren Namen tragenden Syndrom Einzug in die medizinische Terminologie halten sollten. Der lange Weg zu einem weltweit anerkannten Spezialisten, dessen ­Forschungen Bedeutung weit über sein eigenes Fachgebiet hinaus haben, hat einen Ursprung, wie er rus­tikaler kaum sein kann. Es ist gleichzeitig eine Vita, ­welche die positivsten Klischees über die Schweiz zu bestätigen scheint: dass auch bei Herkunft aus den ­sogenannten einfachen Verhältnissen der Aufbruch in die Welt jenseits der von schneebedeckten Gipfeln gesäumten Horizonte, der Aufstieg auf eine globale Bühne (in diesem Fall jene der Wissenschaft) stets möglich ist; Fleiss, Redlichkeit und Charakterstärke vor­ausgesetzt.
Josef Flammer wurde 1948 auf einem Bauernhof in der Nähe von Bronschhofen in der Ostschweiz geboren. «In den dortigen lokalen Verhältnissen», so erinnert sich Flammer, «waren wir eine kleine Familie; ein Nachbar hatte 13, ein anderer 14 Kinder. Meine Mutter hatte sich fast gescheut, weil sie nur 5 Kinder hatte; wir Geschwister waren 2 Mädchen und 3 Buben.» Er wuchs in harmonischen, wenn auch armen Verhältnissen auf; Schuhe wurden gebraucht getragen, die Kinder fuhren manchmal kilometerweit mit dem Velo, um ein Kuvert zu überbringen und damit die Briefmarke einzusparen. Josef Flammer besuchte schliesslich ein Internat in Gossau und nahm 1968 das Medizinstudium auf, zunächst in Fribourg und dann in Bern. Seine Assistentenzeit absolvierte er in den Fächern Innere Medizin, Neurologie und Augenheilkunde, die später allesamt eine Bedeutung für die Erforschung der letztlich ­seinen Namen tragenden Symptomatiken bekamen. Letztlich entschied er sich für die Augenheilkunde, in die er sich im kanadischen Vancouver und in Bern vertiefte, wo er Oberarzt wurde – und die recht junge Akademikerin, quasi Patientin Zero, mit den kalten Händen betreute.
Nachdem er 1987 den Ruf als Direktor der Univer­sitätsaugenklinik Basel angenommen hatte, wurde die Klinik in Patientenbetreuung, Weiterbildung – Flammers zunächst im Frühling, dann im November stattfindendes «Basler Glaucoma-Meeting» avancierte schnell zu einer der angesehensten ­Tagungen des Faches in Mitteleuropa – und Forschung zur «Glaukomhochburg». In jenen Jahren setzte sich unter Augenärzten die ein wenig verunsichernde Erkenntnis durch (ganz wesentlich aufgrund Basler Studien und Publikationen), dass der «Grüne Star» keineswegs immer allein durch den Augeninnendruck auf die überkommene und scheinbar so eindeutige Art zu definieren ist: Unter 22 mm Hg gesund, über 22 mm Hg krank. Man ­erkannte die Bedeutung und weit unterschätzte Prä­valenz des Normaldruckglaukomsdiese Patienten haben einen scheinbar «gesunden» Augeninnendruck von vielleicht 16, vielleicht 18 mm Hg, aber die klinischen Merkmale dieser Optikusneuropathie wie Papillenexkavation und progrediente Gesichtsfeldausfälle. Und viele Normaldruckglaukompatienten haben noch mehr: Kalte Hände. Einschlafstörungen. Tinnitus. Manchmal auch Migräne. Und vor allem: arteriellen Hypotonus.
Bild von einer Thermographie.
Flammer, der Gesichtsfeldindices in die augenärztliche Diagnostik einführte und das Konzept des Reper­fu­sionsschadens beim Glaukom entwickelte, begann Ende der 1980er Jahre Untersuchungen mit Instrumenten einzuführen, die wahrlich nicht zur augenärztlichen Standardausrüstung gehören: mit der Nagelfalzmikroskopie, später mit der Doppler-Sonographie und der Thermographie. Der reduzierte Blutfluss in dieser äussersten Körperperipherie passte in ein sich allmählich entwickelndes Gesamtbild, zu dem ein systemischer Hypotonus gehört. Die nächtlichen «Dips» eines möglicherweise schon tagsüber recht niedrigen Blutdrucks wurden von Flammer und Mitarbeitern als ein wesentliches Risiko für die Ganglienzellen in Retina und Sehnerv des Normaldruckglaukompatienten identifiziert. Basel wurde zu einer Art Wallfahrtsstätte für Menschen – in Flammers späten Jahren dort aus buchstäblich fünf Kontinenten –, denen die Ärzte nicht helfen konnten, vor allem da ein interdisziplinärer Ansatz fehlte. Der Augenarzt behandelte bei ihnen das Glaukom und der Internist den tiefen Blutdruck. In Basel wurde versucht, all diese so auffallend oft gemeinsam auftretenden Symptome in einem Zusammenhang zu sehen und, wo es nötig ist, zu behandeln.
Auf internationalen Kongressen wurde deutlich, dass die bestehende Terminologie für den Symptomenkomplex nicht richtig zufriedenstellte. Weder das zunächst gebräuchliche «vasospastische Syndrom» noch «primäre vaskuläre Dysregulationen (PVD)» trafen es auf den Punkt. Eine internationale Expertengruppe unter der Federführung einer in der Schweiz tätigen polnischen Augenärztin, Katarzyna Konieczka, hat dann den Begriff des Flammer-Syndroms offiziell in die Fachliteratur eingeführt. Dieser Terminus hat sich ab etwa 2013 fast schlagartig durchgesetzt und aus­gebreitet. Flammer unterstreicht, dass ein Syndrom nicht gleichbedeutend mit Morbidität sein muss: «Denn ein Flammer-Syndrom zu haben, bedeutet noch lange nicht krank zu sein. Menschen mit Flammer-Syndrom haben gewisse Krankheiten sogar seltener, andere dafür häufiger. Seltener sind beispielsweise die Arteriosklerose und ihre Folgen.»
Der Augenärztin Katarzyna Konieczka und ihren Kollegen ist es zu verdanken, dass der Begriff des Flammer-Syndroms nun offiziell in der Fachliteratur zu finden ist.
Seit seiner Emeritierung vor vier Jahren ist Flammer – dem vor kurzem der «EPMA Award of Excellence in Research» verliehen wurde – ungebrochen wissenschaftlich und publizistisch aktiv, Einladungen für Vorträge und keynote lectures führen ihn nach China, Russland und Amerika. Betritt er auf seinen Reisen eine Buchhandlung mit Schwerpunkt auf medizinischer Literatur, trifft er häufig auf etwas Bekanntes: Sein Standardwerk über das Glaukom (mit einem grossen Segment über vaskuläre Aspekte) für Mediziner wie gebildete Laien und Betroffene ist inzwischen in 24 Sprachen übersetzt worden, darunter Amharisch (Äthiopien), Koreanisch, Georgisch und in einem pakistanischen Idiom. In einem Nachbarland des Letzteren, in Indien, ist gerade ein Screeningprogramm eingeführt worden: Bei Schülern zwischen 8 und 18 Jahren wird nach Anzeichen von Flammer-Syndrom und oxidativem Stress gesucht.

Das Flammer-Syndrom

Das Flammer-Syndrom ist ein in der Medizin etablierter Begriff und beschreibt eine Sammlung von Zeichen und Persönlichkeitsmerkmalen, die v.a. in Zusammenhang mit einer vaskulären Dysregulation stehen. Der Begriff deckt weit mehr ab als die zunächst untersuchten direkten Folgen von Spasmen der kleinsten Blutgefässe, wie sie unter anderem für kalte Extre­mitäten und auch die für Normaldruckglaukome so typischen Papillenrandblutungen verantwortlich gemacht werden.
Zu den häufigsten Symptomen des Flammer-Syndroms gehören:
Gewisse Charaktermerkmale sind bei Menschen mit Flammer-Syndrom überdurchschnittlich häufig anzutreffen: Sie sind auffallend exakt und häufig im Berufsleben erfolgreich. Flammer-Syndrom findet sich weit häufiger bei Akademikern als bei manuell Arbeitenden. Der Mitbürger mit Flammer-Syndrom ist eher eine Mitbürgerin: Die Betroffenen sind eher weiblich als männlich und häufiger schlank als übergewichtig, viele sind ­sogar sehr dünn.
Menschen mit Flammer-Syndrom haben ein erhöhtes Risiko für gewisse Krankheiten, wie z.B. für ein Normaldruckglaukom. Jüngst ist eine Studie veröffentlicht worden, in welcher 58 Multiple-Sklerose-Patienten und 259 gesunde Kontrollpersonen nach spezifischen Symptomen befragt wurden. Sechs der Charakteris­tika des Flammer-Syndroms wurden dabei von den MS-Patienten statistisch signifikant häufiger angegeben, nämlich gestörte Wärmeregulation, kalte Hände und/oder Füsse, Schwindel, reduziertes Durstempfinden, Hang zum Perfektionismus, niedriger Body-Mass-Index. Potentiell können möglicherweise auch Ge­fässverschlüsse bei jungen Menschen, das Susac-Syndrom und eventuell sogar die ­Metastasierung von Mammakarzinomen in einer Beziehung zum Flammer-Syndrom stehen.
Dr. med. Ronald Gerste
rdgerste@aol.com