Performance

Horizonte
Édition
2017/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06231
Bull Med Suisses. 2017;98(5152):1756

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 20.12.2017

Junge Menschen im Anzug und Kostüm warten ge­duldig vor Hörsälen und Seminarräumen. Zum vierten Mal findet im No­vember die «Lange Nacht der Karriere» statt. Rund 14 Hochschulen organisieren bei wachsender Nachfrage eine Jobberatung für Studienabgänger. Weniger Berufsmesse als vielmehr ein Parcours der Selbstvermarktung. Zu den beliebtesten Angeboten gehören Visagisten und Styling-
Tipps am Fotoshooting. Kein Bewerbungsdossier ohne professionelles Porträtfoto. In kleinen Gruppen diskutieren Studenten praktische Ratschläge, die eigenen Chancen gegen andere Bewerber zu erhöhen. Vorlesungen wechseln mit spielerischen Einlagen, die manuelle Geschicklichkeit oder Improvisationstalent prüfen. Ein Powerpoint-Karaoke von der Post, der Zusammenbau eines Ikea-Möbels, ein fachfremder Kurzvortrag, Gestik- und Rhetorikübungen vor lau­fender Kamera. Im Kontakt mit Berufsleuten können Interessierte ein Netzwerk aufbauen, das den Einstieg erleichtert. Stilberatung, Interviewtraining, Knigge-Kurse und interaktive Spiele sorgen für Abwechslung. Neben Wett­bewerben gibt es Getränke und Snacks. Zentral ist das Career-Speed-Dating mit potentiellen Arbeitgebern. Bewerber verkaufen sich während fünf Minuten im Gespräch inklusive Rückmeldung. Gefragt sind ein ­lockeres Auftreten, richtig dosierte Selbstsicherheit, Vermitteln von Kompetenz und eine konforme Kleidung. Wie auf der Bühne entscheidet die richtige Performance über den Einstieg in die erstrebte Berufs­karriere.
Ärzte und Lehrer haben die besten Chancen, schon im ersten Jahr nach Studienabschluss eine Anstellung zu finden. Es gibt beträchtliche regionale Unterschiede. Abgänger der Universitäten Zürich und St. Gallen haben die grössten Chancen, Lugano ist schweizweit mit 11% ohne Job in den ersten zwölf Monaten das Schlusslicht. Das gleiche spiegelt sich im Vergleich der Löhne, wo Zürich und die Ostschweiz führen.
Wer sein Berufsleben hinter sich hat, kann dieser ­Generation nur das Beste wünschen. Steigende Studentenzahlen, der Konkurrenzdruck und ein konsequentes Bewertungssystem erfordern die permanente Selbstoptimierung. Was keine ECTS-Punkte einbringt, ist uninteressant, Umwege, die eigenen Neigungen entsprechen, sind nicht ratsam. Eine Begleitindustrie offeriert kostenpflichtige Nachhilfe und Prüfungsvorbereitungen. Wer nicht von Anfang an auf Ritalin setzt, beachtet das optimale Ernährungsangebot der Lebensmittelgeschäfte und Campus-Shops, die sich in der Nähe von Hochschulen angesiedelt haben. Wie immer sind die USA um eine Nasenlänge voraus. Am Wellesley Privatcollege nahe Boston, wo einst auch Hillary Clinton studierte, gibt es kollektive Strickprojekte und ­einen Streichelzoo mit Ziegen und Eseln.
Auf dem Arbeitsmarkt entscheiden auch andere Kriterien als ein akademischer Abschluss. Praktika sind ­gefragt und Erfahrungen in anderen Berufen. Die Un­sicherheit hat zugenommen, denn kein Beruf wird von der Digitalisierung verschont bleiben. Gemäss einem aktuellen Bericht des Bundesrates zu den Chancen und Risiken werden auch im Spital immer mehr Operations­schritte von Robotern übernommen. Ärzte sollen überwachen und im Notfall eingreifen. Trotz vielen verschwundenen Berufen habe die Automatisierung in den letzten 20 Jahren ein anhaltendes Stellenwachstum ermöglicht. Um Büroberufe steht es schlecht. Die besten Chancen hätten Datenanalysten, Gerätedia­gnostiker, Verwalter, Generalisten, Programmierer und IT-Talente, Ingenieure, Pflegende und «Wohlfühlanbieter». Unter Letzteren subsumiert die Studie Coiffeure, Kosmetiker und Therapeuten. Auch Leute, die Hand ­anlegen, wie in der Landwirtschaft und in der Küche, finden eine Nische. Selbst ein mustergültig stromlinien­förmiges Verhalten ist keine Garantie gegen Temporärjobs, Dauerpraktika und Arbeit auf Abruf. Der flexible Mensch leidet unter Nebenwirkungen. Davon war in der wirtschaftsorientierten Karrierenacht nicht die Rede. Wir können nur raten, welche Fähigkeiten in 20 Jahren ein gutes Überleben ermöglichen. Empathie und Solidarität werden mit Sicherheit dazugehören, auch wenn das keine Performance vorgesehen hat.
erhard.taverna[at]saez.ch