Bundesrat Alain Bersets 20 Minuten- Entscheid,- oder: Der Königsweg zur Diagnose

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06177
Bull Med Suisses. 2017;98(46):1539

Publié le 15.11.2017

Bundesrat Alain Bersets 20-Minuten- Entscheid, oder: Der Königsweg zur Diagnose

Die Bedeutung des Gesprächs
Die Erhebung der Anamnese ergibt durchschnittlich 85% der Daten, die für die Stellung der Diagnose entscheidend sind. Die restlichen Daten liefern die Körperuntersuchung und die Labortests.
Anscheinend gelten des Philosophen Martin Buber (jüdischer Religionsphilosoph, 1878–1965) Überlegungen auch für das ärztliche Gespräch. Befragt, welches Gespräch er für das Wichtigste halte, antwortete er: Dasjenige, das ich im Augenblick führe! Im Gegensatz dazu steht Alain Bersets Vorschlag, dass nur die ersten 20 Minuten eines Arzt-Patient-Gesprächs von den Krankenkassen zu bezahlen seien. Dagegen muss eingewendet werden, dass nicht vorausgesagt werden kann, ob nach 20 Minuten das Gespräch schon auf das Wesentliche gestossen ist.
Konsequenzen
Das Arzt-Patient-Gespräch ist heilig. Es darf nicht gestört werden, weder durch zeitliche Beschränkung noch durch situative Behinderung. Der Patient ist Partner, und nicht Objekt. Nicht nur soll seine Krankheit erfasst werden, sondern er mit seiner Krankheit, und nicht nur er mit seiner Krankheit, sondern er mit seiner Krankheit in seiner Umwelt [1]. Dazu soll der Arzt sitzen [2]. Der Arzt darf nicht gestört werden ausser in dringenden Fällen. So soll er seinen Sucher einem Kollegen geben oder der Schwester. Kojen mit Vorhängen sind kein günstiger Ort für das Gespräch. Der Arzt sorgt beispielsweise bei einem älteren Menschen dafür, dass er fragt , ob sein Gegenüber hörbehindert ist. Er lässt ihn so liegen oder sitzen, dass er möglichst beschwerdearm Auskunft geben kann. Er schreibt nicht während des Gesprächs, höchstens bittet er den Patienten ihm zu erlauben, kurz zu unterbrechen, um einige Notizen machen zu dürfen, um dann das Gespräch fortzusetzen. Der Arzt muss lernen, während des Gesprächs zwischen Nachdenken und Sicheinfühlen zu pendeln, nach R. Greenson eine «unmögliche» Aufgabe [3]. Er soll das Gespräch semistrukturieren, d.h., er soll die Fragen stellen, die er unbedingt zur Klärung der Krankengeschichte benötigt, aber sie so stellen, dass der Kranke im Verlaufe seiner Schilderung nicht gestört wird. Ein solches Gespräch nennen wir semistrukturiert. Die Anleitung dafür haben wir formuliert [4]. Der Arzt soll die Gefühle und Gedanken berücksichtigen, die der Patient in ihm auslöst (wir nennen dieses Geschehen Gegenübertragung). Sie ermöglicht beispielsweise, Müdigkeit eher psychischen Ursprungs von Müdigkeit durch eine körperliche Erkrankung zu unterscheiden [5]. Strukturiert der Arzt mit Suggestivfragen, Doppel- oder Dreifachfragen, Fragen, die nur mit Ja/Nein beantwortbar sind, usw., so verpasst er die Welt des Patienten, obwohl er auf diese Weise Zeit einzusparen vermeint.
Er droht dann so vorzugehen, wie die zwei japanischen Schiffsingenieure in der Geschichte vom indischen jungen Mann Pi in der «Reise mit Tiger», wo die Japaner nicht die authentische Geschichte Pis hören wollen, sondern die «faktische», die zum Schiffbruch und zu Pis Reise geführt hat [6]. Pi kommentiert das Anliegen der beiden Ingenieure so: «You want a story that won’t surprise you. That will confirm what you already know. What won’t make you see higher or further or differently. You want a flat story. An immobile story. You want a dry, yeastless factuality!»
Qualitätsprüfung der Anamneseerhebung
Wie in andern Gebieten der Medizin stellt eine Prüfung einer Qualität, hier der Anamneseerhebung, eine recht schwierige Aufgabe dar. Ähnlich wie der Kardiologe die Echounter­suchung des Herzens erlernen muss, kann der Arzt beispielsweise im Kurs zur Erlangung des Fähigkeitsausweises in psychosozialer und psychosomatischer Medizin Anleitung und Übung im Erheben der Anamnese erhalten.