Wenn ein CEO 500-Mal mehr Einkommen hat als ein IV-Rentner

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06133
Bull Med Suisses. 2017;98(43):1411–1412

Publié le 25.10.2017

Wenn ein CEO 500 Mal mehr Ein­kommen hat als ein IV-Rentner

Brief zu Marty F. Wirtschaft bringt Gesundheit.
Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(39):1269–71.
Zweifellos ist eine gesunde Wirtschaft mit genügend Arbeitsplätzen äusserst wichtig für die Volksgesundheit und Prävention seelischer und anderer Krankheiten. Arbeitgeber, die sozialverträglich handeln, Arbeitsplätze schaffen, nicht auslagern (jeder Arbeitsplatz ist wichtig, auch weniger spezialisierte sind nötig), tun so viel Gutes und unglaublich Wichtiges, möglicherweise werden diese seliggesprochen.
Nur: Dem Loblied des grenzenlosen Wachstums setze ich Folgendes entgegen:
Viele von uns Ärzten erleben in unseren Praxen in den letzten Jahren mehr Armut als auch schon.
Es gab Phasen von Wirtschaftswachstum, die weniger Unglück mit sich brachten als die ­jetzige, denn:
– Der Trickle-down-Effekt ist nicht eingetreten, der Reichtum der Reichen sickert nicht nach unten durch, alles dicht, seit 
ca. 25 Jahren: Die Schere zwischen Arm und Reich ist weiter aufgegangen, 2011 gehörten schon 40% des Vermögens dem reichsten hundertsten Prozent der Bevölkerung in der Schweiz.
– Die Entsolidarisierung mit Kranken hat dank neuer IV-Revisionen einen Höhepunkt erreicht, wie viele praktizierende Ärzte feststellen müssen: Immer mehr schwere, chronische Leiden werden von der Sozialversicherung ausgeschlossen, Berentung zurückgewiesen oder gestoppt.
– Trotz Bevölkerungswachstum um eine Million seit 10 Jahren nahm die Rentenzahl um fast 40 000 ab.
Begann die Entsolidarisierung mit Kranken und Schwachen kurz vor der Jahrtausendwende mit den millionenschweren CEO-Gehältern, dem Glauben an das grenzenlose Wirtschaftswachstum, oder mit der Schein­invalidenkampagne und den folgenden IV-
Revisionen unter Leitung von Parlament, Ökonomen, fachfremden CEOs der Sozialversicherungen?
2014 wurde klar entschieden, dass Berichte behandelnder Ärzte nicht mehr entscheidend sind, sondern die Hauptbedeutung den Urteilen der Richter zukommt.
Wann gingen die Kranken und die Armen vergessen, wie können sie wieder zu ihrem Recht kommen und zu anständiger Behandlung, die halt auch eine IV-Rente bedeuten kann? Ohne finanzielle Sicherheit und damit auch An­erkennung bestehender Krankheiten ist Stabilisierung der Krankheit fast unmöglich, trotz Wirtschaftswachstum.
8 Mio. Einwohner bedeuten übrigens 80 000 Schizophreniekranke, mindestens 120 000 Bipolarkranke, ein grosser Teil von ihnen braucht, trotz bester Integrationsbemühungen, eine IV-(Teil-)Rente.
Gerne würde ich einen 10 Mio. Franken verdienenden CEO treffen und ihn fragen: «Wie ist das für Sie, so viel wie 500 IV-Rentner zusammen zu verdienen?»
20 000 Franken erhält der IV-Rentner nämlich, jährlich, nicht etwa monatlich oder täglich, haben Sie das gewusst? Und ein Sozialhilfeempfänger meistens noch weniger. Kennen Sie das «Tischlein deck dich»? Aber auch dafür brauchen Sie Gutscheine von einer sozialen Institution. Könnten Sie mithelfen, Arbeitsplätze zu sichern, nicht auszulagern, auch «einfache» Arbeitsplätze?
Ihre Gesundheit wird nicht besser, wenn Sie noch mehr verdienen, die Würde und Gesundheit Armer und Kranker aber schon. Reichtum verpflichtet, oder?
Vielleicht tut er ja aber schon so sehr viel ­Gutes, und redet nur nicht davon ...