Leider keine Klarheit

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06095
Bull Med Suisses. 2017;98(41):1329–1330

Publié le 11.10.2017

Leider keine Klarheit

Brief zu: Schädelin J, Niggli F, Völkle H. Nach langer Aufarbeitung endlich Klarheit. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(35):1102–4.
Die Autoren suggerieren mit der Überschrift «Kinderleukämien um Atomkraftwerke», der Formulierung «endlich Klarheit» sowie einer ungeklärten Einzelepisode (Häufung 1979–
1984 von Leukämien in der Umgebung der britische­n Nuklearanlage Sellafield) eine allgemeine Entwarnung (Zitat): «… belegt dieser Beri­cht […] dass Nuklearanlagen, wie sie heute betrieben werden, nicht ein Risiko für Leuk­ämien und Krebserkrankungen in der Umgebung darstellen.» Diese jetzige Initiative des Forum Medizin und Energie FME in der Schweizerischen Ärztezeitung erinnert an seine fragwürdige Aktion im Kontext der Schweizerischen Kinderkrebsstudie CANUPIS im Jahre 2009. Damals verbreitete das FME schweizweit in Arztpraxen eine Broschüre zum Thema Kinderleukämie und Kernkraftwerke. Die damalige Erstauflage [1] wurde wegen eine­r nachweislichen Fehldarstellung («Die Forscher schliessen die Strahlung der deutschen Kernkraftwerke als Ursache [für Kinderleuk­ämien] aus») auf Druck von PSR/IPPNW zurückgezogen und durch eine neue korrigierte Version ersetzt. Diese Vorgeschichte lässt die Frage aufkommen, ob sich auch im Jahre 2017 der Bock wieder zum Gärtner machen will. Folgende Aspekte verlangen eine sachliche Entgegnung:
1. Unsere Kritik richtet sich primär gegen die Methodik der Autoren: Sie schliessen aufgrund eines Berichtes über Beobachtungen bei einer einzigen Nuklearanlage auf die Gesamtheit der Nuklearanlagen. Das ist eine unwissenschaftliche Vor­gehensweise, im Wissen darum, dass angesichts der niedrigen Inzidenz von kindli­chen Leukämien (aus Gründen der fehlenden Aussagekraft, sprich der fehlenden statistischen power) für zuver­lässige Aussagen viel grössere Kollektive untersucht werden müssen.
2. Es wird ein wissenschaftliches Thema mit dem Anspruch abgehandelt, dass dem FME nun eine definitive Klärung einer brisanten Frage möglich sei. In einer solchen Diskussion, sollte sie sachbezogen sein, halten wir es für notwendig, dass mehr als nur eine einzige Literaturreferenz angeführt wird. Aus dieser Optik sei auf die für einen Leserbrief etwas ausführlichere untenstehende Referenzliste [1–8] verwiesen.
3. Die Frage der statistischen Assoziation und der Kausalität sollte getrennt behandelt werden. Aktuelle epidemiologische Daten ergeben einerseits zweifelsfrei eine statistisch signifikante Häufung von Kinderleukämiefällen im Umkreis von 5 km von europäischen Atomkraftwerken [2, 3]. Andererseits konnten in den bisherigen Studien, wie auch von den Autoren Schädelin, Niggli und Völkle erwähnt, eine Vielzahl von Ursachen – abgesehen von ionisierender Strahlung aus AKW – weitgehend ausgeschlossen werden. Es ist somit nicht nachgewiesen, dass Nuklear­anlagen (... und damit die von ihnen emittierten Radioisotope) kein Risiko darstellen sollen.
4. In den letzten Jahren sind mehrere Arbeiten [4–8] zu ernsthaften Gesundheitsschäden durch niedrige Dosen ionisierender Strahlung in peer reviewed Journals pu­bliziert worden, auch aus der Schweiz [8]. Es hat sich erwiesen, dass bereits Strahlendosen im Bereich von 1 Millisievert pro Jahr das Risiko erhöhen, an einer kind­lichen Leukämie zu erkranken. Mit den Resultaten dieser neuen Studien wird die Diskussion erneut angefacht (und ist keineswegs «endlich klar»!), ob die von den AKW z.B. durch die während dem Brennelementewechsel abgegebenen radioaktiven Emissionsspitzen an der Entstehung der kindlichen Leukämien in der Umgebung ursächlich beteiligt sind.