Kommentar zum Beitrag von Valérie Junod und Carole-Anne Baud [1]

Darf es bei Arzneimitteln einen Kosten-Nutzen-Schwellenwert geben?

Tribüne
Édition
2017/45
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06093
Bull Med Suisses. 2017;98(45):1515–1516

Affiliations
Dr. med. et lic. iur., Rechtsanwalt

Publié le 08.11.2017

Der gute Artikel von Junod et Baud beleuchtet manch spannende Frage zur Arzneimittelvergütung durch die OKP. Sein Auslöser war ein Urteil des Bundesgerichts, in dem die richterliche Vorinstanz im Kanton Tessin angehalten worden war, ihre Bejahung einer Ver­gütungspflicht im Einzelfall näher zu begründen. Im ­Wesentlichen diskutierten die Autorinnen, dass es das Bundesgericht unterlassen hatte, eine konkrete Antwort auf die Frage zu geben: Wann ist ein Arzneimittel bei welchem Patienten mit welchem Nutzen zu welchen Kosten wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes? Die Autorinnen raten zu einer paneuropäischen Kosten-Nutzen-Bewertungsgrundlage. Diese könne nur mittel- bis längerfristig geschaffen werden, daher sei der Schweizer Gesetzgeber gehalten, vorerst einen eigenen Kosten-Nutzen-Schwellenwert zu definieren, auch wenn dieser nur ungenügend sein könne. Weder Bundesgericht noch Junod/Baud beleuchten die Frage, ob es bei einem Arzneimittel überhaupt je einen Kosten-Nutzen-Schwellenwert geben darf.

Résumé

Il y a quelques semaines, les juristes genevoises Valérie Junod et Carole-Anne Baud se sont exprimées sur le remboursement des médicaments. La réponse de l’avocat et médecin spécialisé dans ce domaine Andreas Wildi complète les observations de ses collègues. Il est d’avis que rien ne justifie en principe le refus d’utiliser un médicament pour des raisons de coût. Les bases légales doivent au contraire être adaptées. Il devrait exister des modes de fixation des prix rétribuant équitablement la propriété intellectuelle d’un médicament. Et ce au niveau macroéconomique et non microéconomique, c.-à-d. du patient. Le patient devrait toujours recevoir un traitement s’il est médicalement indiqué. Il convient de quitter au plus vite la fange de la «mesure de la valeur d’une vie» au détriment de l’individu. Cela n’empêche évidemment pas que les mesures sont nécessaires et que des rapports bénéfices/coûts doivent être définis. Mais ces comparaisons doivent servir à la «répartition» du «budget de médicaments» entre les différents titulaires. Elles ne doivent pas être utilisées pour refuser le traitement le plus approprié à un patient. Compte tenu de cela, le Tribunal fédéral est prié de prendre davantage de positions de principe, d’autant que l’une des ambitions majeures des pères et mères de la LAMal était d’éviter une médecine à deux vitesses avec cette loi.
Ein Kosten-Nutzen-Schwellenwert ist bei Arzneimitteln eine contradictio in adiecto. Das ist nicht bei allen medizinischen Leistungen so. Viele Leistungskosten, e.g. Pflegeleistungen, sind beispielsweise direkt durch den Personalaufwand bedingt. Daher können nicht ­jedem Leichtkranken drei Pflegefachpersonen rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Personalmangel und/oder einfach zu errechnende Kostenexplosion wären die Folgen. Bei Arzneimitteln verhält sich dies grundsätzlich anders. Arzneimittel sind kein begrenztes Gut, und ihre Herstellungskosten sind vernach­lässigbar. Ihr Wert ist im Wesentlichen immateriell. Durch Patente und andere Schutzrechte wird er zum Monopol. Dadurch soll ein hoheitlicher Anreiz zu Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln gesetzt werden. So weit, so gut. Unverständlich wäre vor diesem Hintergrund, wenn die Monopolstellung dazu führen kann, dass eine einzelne Patientin ein medi­zinisch indiziertes Arzneimittel nicht erhält (bei der schwerkranken, durch das Arzneimittel wesentlich entlasteten Patientin aus der Südschweiz wurde trotz Bejahung der Wirksamkeit durch eine in Zürich praktizierende, international anerkannte Schweizer Expertin – die ausländische Zulassungsbehörden und Vergütungsbehörden in ihrem Spezialgebiet berät – bei einem Arzneimittelpreis weit unter den oft als Schwellenwert diskutierten Jahreskosten von 100 000 CHF die Vergütung abgelehnt).
Es gibt keine sachliche Legitimation, Arzneimittel aus Kostengründen nicht einzusetzen. Vielmehr sind die Rechtsgrundlagen anzupassen. Es müssen Preisfestsetzungsmodi existieren, die das geistige Eigentum an ­einem Arzneimittel fair honorieren. Auf der Makro­ebene. Nicht auf der Mikroebene des einzelnen Patienten. Der einzelne Patient hat ein Arzneimittel immer zu erhalten, wenn es medizinisch angezeigt ist. Heute sind wir weit davon entfernt und haben uns in die ­Niederungen der «Lebenswertvermessung» zu Lasten eines einzelnen Menschen begeben. Natürlich müssen wir evaluieren. Wir müssen Kosten-Nutzen-Verhältnisse definieren und vergleichen können. Diese Vergleiche dienen aber der «Verteilung» des «Arzneimittelbudgets» auf die einzelnen Zulassungsinhaberinnen von Arzneimitteln. Sie dienen nicht dazu, einem Patienten seine für ihn beste Therapie zu verweigern.
Die unethische Fehlerhaftigkeit des heutigen Systems liegt darin, dass einer Kosten-Nutzen-Schwelle für Arzneimittel die innere zwingende Logik fehlt. Man darf nicht einen potentiell für einen Patienten unendlich wichtigen Nutzen einer nur sehr kleinen zwingenden Kostenkomponente gegenüberstellen. Wert und Ho­norierung eines Arzneimittels sind das Kondensat aus Immaterialgüterrecht und Preisfestsetzungsrecht, also Sozialversicherungsrecht. Wert und Honorierung werden vom Staat bestimmt. Wie soll man also verstehen, dass ein Arzneimittel für die hervorgerufene therapeutische Leistung zu teuer sei. Wenn doch der Preis vom gleichen Staatswesen über Schutzrechte und staatliche Preisfestsetzung selbst bestimmt wird? Der Staat ist bereit, Preise gemäss einem von ihm verantworteten System zu bezahlen, die im Einzelfall zu teuer sein können, obwohl sie im Einzelfall immer noch nützen? Wäre der Arzneimitteleinsatz sachlich falsch, wäre dies ein berufsrechtliches, auftragsrecht­liches, allenfalls strafrechtliches Problem. Wenn der Arzneimitteleinsatz medizinisch richtig ist, kann er nicht zu teuer sein, ausser das System ist falsch.
Nun ist das keine neue Erkenntnis, dass die Arzneimittelpreisfestsetzung ein schwieriges Unterfangen darstellt. Aber es würde Gesetz- und Verordnungsgebern, den ausführenden Organen und der Judikative gut ­anstehen, sie würden sich immer wieder vor Augen führen, dass es keine zwingende Notwendigkeit gibt, Arzneimittel einem Patienten vorzuenthalten. Wie können wir ein System stützen, auf dem basierend ­unsere Volkswirtschaft und wir als Einzelne stark finanziell profitieren, wenn dadurch Mitbürgerinnen um die für sie geeignetste Therapie gebracht werden? Und wie können wir dies bei schweren, seltenen Erkrankungen tun? Weil wir die Preisforderungen der Pharmaindustrie unverschämt finden? Dann kann man diese Preisforderungen diskutieren und allenfalls durch geeignete Systemrevision zurückweisen, aber doch nicht auf dem Buckel von schwerkranken Patienten. Im Einzelfall!
Der steten Kostensteigerung in der OKP ist keinesfalls vorschnell mit Rationierungen Herr zu werden, sondern mit Optimierungen entgegenzutreten. Am Ende mögen Einschränkungszwänge bestehen bleiben. Aber nicht bei Arzneimitteln. Diese kosten nichts, sind aber sehr viel wert. Ihren materiellen Wert gilt es so festzulegen, dass der therapeutische Wert für den einzelnen Patienten immer zur Verfügung stehen kann, sei er noch so klein. Wenn es medizinisch besser ist, ein bestimmtes Arzneimittel einzusetzen als kein Arzneimittel oder ein anderes Arzneimittel oder einen nicht medikamentösen Therapieansatz, dann gehört genau dieses Arzneimittel eingesetzt. Je länger wir mit Rationierungen im Einzelfall potemkinsche Dörfer der Kostenkontrolle pappen und pinseln, desto mehr kaschieren wir die Notwendigkeit von Systemreformen und machen uns dadurch doppelt schuldig: Wir verwehren heute ­einer Patientin eine wirksame und zweckmässige Therapie, und wir verpassen es, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass die Therapie morgen nachhaltig niemandem mehr verwehrt bleibt.
Das Bundesgericht hätte etwa in dieser Angelegenheit Folgendes äussern mögen: «Angesichts der sachlichen Unmöglichkeit, den Nutzen eines Arzneimittels in Bezug auf einen Patienten in seiner Wichtigkeit einstufen zu können, haben Gesetz- und Verordnungsgeber vorzukehren, dass Arzneimittel zu den Preisen eingekauft werden können, die eine Therapie aller Patienten ermöglichen, die sie benötigen. Eine Einzelfallbeurteilung durch das Bundesgericht verbietet sich als ­Eingriff in alles, was uns heilig ist. Und wenn denn geantwortet werden müsste auf die Rechtsfrage, was ein hoher ­medizinischer Nutzen sei, beantwortete sich die Frage durch die universelle und durch die Verfassung garantierte Würde des einzelnen Menschen: Alles, was ­einem schwerkranken Patienten gesundheitlich nützt, hat einen hohen Nutzen. Erst wenn Gesetz- und Verordnungsgeber aufzeigen könnten, dass jede erdenk­liche Massnahme zur Rationalisierung des Gesundheitswesens vorgekehrt ist, und der Souverän entschieden hätte, einer maximal rationalisierten Gesundheitsversorgung nur einen bestimmten Höchstbetrag zuzuweisen, dürften sich Gesellschaft und ­Gerichte die Frage stellen, ob in einem Einzelfall zugunsten eines anderen Einzelfalles eine bestimmte Therapie zurückzustehen hat oder nicht. Im Falle von Arzneimitteln ist eine solche bewusste, trennende ­Ressourcenallozierung aber nie notwendig, denn die Preise von Arzneimitteln können immer nur Ausdruck eines Übereinkommens zwischen pharmazeutischer Industrie und Allgemeinheit sein. Dieses ist immer erst dann abgeschlossen, wenn alle Patienten eingeschlossen werden können, die einen – und sei es auch nur kleinen (Qui autem iudicat?) – therapeutischen Nutzen aus einer Arzneimitteltherapie davontragen. Und ganz besonders gilt es, dieses Übereinkommen für Patienten mit seltenen, schweren Krankheiten zu schaffen und einzuhalten.»
Andreas Wildi
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1 Junod V, Carole-Anne B. L’éternel casse-tête. Schweiz Ärztezeitung. 2017;36:1157–60.