Zur Positionierung der Spiritual Care im psychiatrischen Behandlungsalltag

Tribüne
Édition
2017/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06024
Bull Med Suisses. 2017;98(42):1382–1384

Affiliations
Spiritual-Care-Seelsorger und Ethikbeauftragter der St. Galler Psychiatrie-Dienste Süd. Studium der Theologie (Uni Tübingen) und Pastoralpsychologie (Uni Bern), Journalist und akkreditierter Gerichtsreporter

Publié le 18.10.2017

Spiritual Care verdient in der Psychiatrie besondere Aufmerksamkeit. Denn psychische Störungen betreffen nicht nur einzelne Aspekte des Erlebens, sondern die ganze Persönlichkeit. Neben biopsychosozialen Aspekten gilt darum auch dem Spirituellen Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt deshalb, weil Bezugsrahmen, Sinn und Identität eines Lebens oft radikal in Frage stehen und spirituelle Fragen auslösen.
In der Psychiatrie stellen sich spirituelle Fragen oft mit grosser Dringlichkeit. Denn psychische Störungen ­berühren nicht nur einzelne Aspekte des Erlebens, sondern umgreifen die ganze Persönlichkeit. Depres­sionen und Manien, Psychosen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen oder Suchtverhalten, um nur einige Beispiele zu nennen, sind oft verbunden mit tiefen Brüchen im Erleben der eigenen Identität, des sozialen Zusammenlebens, des Lebenssinnes und des bisherigen Wertesystems.

Résumé

L’accompagnement spirituel mérite une attention particulière dans la psychiatrie. Les troubles psychiques n’affectent en effet pas seulement des aspects isolés du vécu, mais la personnalité tout entière. Outre les facteurs biopsychosociaux, il faut donc considérer la dimension spirituelle, d’autant que le cadre référentiel, le sens et l’identité sont souvent radicalement remis en question, que des interrogations surgissent et que des ressources se manifestent.
A l’institution St. Galler Psychiatrie-Dienste Süd, nous favorisons une conception ouverte de la spiritualité. Toutes les personnes intéressées ont donc facilement accès à un accompagnement spirituel. Ces dernières années, l’aumônerie classique a toujours plaidé en faveur de l’ouverture et encouragé le dialogue interprofessionnel. Comme l’accompagnement ­spirituel est nécessairement lié à des positionnements subjectifs, l’auteur souhaite leur communication transparente. Le respect et la crédibilité de l’accompagnement spirituel vis-à-vis des patients l’exigent. Cela permet d’accéder aux sources spirituelles et de promouvoir globalement l’autonomie des patients en psychiatrie.
Es steht somit nicht etwas «an» den Betroffenen auf dem Spiel, sondern die Betroffenen selbst, vielfach verbunden mit existentieller Verzweiflung, nicht zuletzt durch den Verlust des inneren Bezugsrahmens und des Empfindens ihrer Würde. Darum legt sich in der Behandlung eine palliative Grundhaltung nahe, die das bio-psycho-soziale Weltbild um die vierte, die spirituelle Dimension erweitert.

Offener Spiritualitätsbegriff

Dahingehend ist viel in Bewegung geraten. Spiritual-Care-Spezialisten arbeiten heute zunehmend in allen Bereichen des Gesundheitswesens. Und es sind nicht mehr nur wie bisher Theologinnen und Theologen mit psychologischem Zusatzstudium, die ihren Beitrag leisten. Heute interessieren sich auch Pflege, Medizin und andere Berufsgruppen für diese Fragen und bilden mit der Seelsorge interprofessionelle Teams für eine umfassende Achtung spiritueller Ressourcen, also für eine idealerweise gemeinsam getragene Spiritual Care.
Bei den St. Galler Psychiatrie-Diensten Süd legen wir der täglichen Arbeit darum einen Ansatz zugrunde, der alle vier genannten Dimensionen umfasst. Federführend wirken dabei die beiden Seelsorger, die als Theologen im abendländisch-christlichen Traditionsstrom verortet sind. Dabei stützen wir uns aber der Sache nach zunächst auf die sehr offene Begriffsbestimmung der Spiritualität, wie sie die weithin akzeptierte, interdisziplinäre Konsensdefinition von Bigorio TI (2008) zum Ausdruck bringt:
«Spiritualität durchdringt alle Dimensionen mensch­lichen Lebens. Sie betrifft die Identität des Menschen, seine Werte, alles, was seinem Leben Sinn, Hoffnung, Vertrauen und Würde verleiht. Spiritualität wird erlebt in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zum Transzendenten (Gott, Höhere Macht, Geheimnis …). Zur Spiritualität gehören die Fragen, die angesichts von Krankheit und Endlichkeit des Lebens aufkommen, ebenso wie die individuellen und die gemeinschaftlichen Antworten, die dem erkrankten Menschen als Ressource zur Verfügung stehen.»
Diese Ressourcen stellen gerade für Psychiatriepatienten oft ein «lender of last resort» dar, einen «Vertrauensgeber der letzten Zuflucht». Spiritual Care als Behandlungselement in der Psychiatrie versucht darum, diesen Geist als Quelle «wahr» zu nehmen und zu nutzen. Das meint nichts anders, als aufmerksam zu sein, für den Spirit, in dem ein Leben gelebt wird. Oder wurde. Oder gelebt werden will.

Indikationen der Seelsorge

In der Praxis steht Spiritual Care darum stets in Kontakt mit den Teams aller Stationen. Sie wirkt neben Einzelgesprächen auch in Gruppenangeboten mit oder bietet solche niederschwellig an, um den Zugang für Patienten offenzuhalten. Namentlich bei spirituellen Aspekten der Erkrankung steht sie als Expertin beratend zur Seite. Patienten und Teams können das Angebot anfordern und nutzen. Je nach Stationskultur fragt die Behandlung sie direkt an, vereinbart via offener Agenda von sich aus Einzelgespräche oder macht die Seelsorger aufmerksam und ermuntert sie zur Initiative. Dabei ist ein fachlicher Austausch unter Wahrung der Verschwiegenheitspflicht unabdingbar und vertrauensvolle Praxis, mündlich wie in der schriftlichen Dokumentation.
Konkrete Indikationen für den Beizug der Seelsorge bilden zunächst oft klassische geistliche Themen wie Trauer, Schuld und Vergebung, aber auch das ungelöste Erleben von Schicksal, Ohnmacht oder fehlendem Lebenssinn, also die sogenannten Kontingenz­erfahrungen. Es gibt auch Patienten, die gezielt nach Ritualen fragen und in Chorälen, Gebeten oder Geschichten eine Verbindung zu ihren persönlichen spirituellen Wurzeln suchen. Und Teams, die namentlich nach Todesfällen Formen zur Verarbeitung suchen, nicht zuletzt, um die Stabilität in solch vulnerablen Situationen zu behalten. Weitergehende Indikationen stellen sich bei Fragen der Identität in Biografiebrüchen, versehrtem Selbstbild oder beim Ablegen von Formen einer pathologisierenden Religiösität.

Interventionen der Seelsorge

Die Interventionen der Seelsorge gehen konkret dahin, Trauernde in ihrem Selbsterleben ernst zu nehmen, in ihren Fragen zu begleiten und ein Reframing zu fördern. Es geht ferner darum, Betroffene von Schuld­gefühlen zu entlasten, Identität und Vertrauen zu stärken, Bedeutungen ihres Weges wahrzunehmen, Hoffnungen zu fördern, Deutungsrahmen anzubieten und das diesseitige Erleben, wo gewünscht, transparent zu machen für eine tiefere Wirklichkeit. Es geht auch um das Erkennen von Handlungsspielräumen, um das Begleiten von Veränderungsprozessen und um die Würdigung gelebten Lebens.
Schöne Worte, könnte man einwenden. Doch es sind in der gelebten Praxis mehr als Worte, es sind Konkretionen spirituellen Erlebens, seiner Kraft und Bedürfnisse. Sie spiegeln den Versuch, Deutungen zu suchen, Quellen zu finden und Würde zu erleben. Die Seelsorger leisten darin einen wertvollen Beitrag an die interdisziplinäre Kooperation und an eine professionelle Spiritual Care für alle Interessierten, letztlich einen Beitrag an eine ganzheitliche Genesung. Vorausgesetzt sind dabei neben einem geisteswissenschaftlichen Studium solide Grundkenntnisse der Psychopathologie, aber auch Sensibilität im Umgang mit Übertragungen und Gegenübertragungen sowie mit Manipulationsversuchen und Gruppendynamik.

Positionsbezug notwendig

Nun hat Spiritualität naturgemäss auch mit subjektiven Einstellungen, Erfahrungen und Überzeugungen zu tun, kurz, mit Positionen. Umso wichtiger scheint es, dass alle in der Spiritual Care Beteiligten Transparenz herstellen über ihre persönliche Positionierung und diese kritisch reflektieren. Erst diese Transparenz macht sie redlich und glaubwürdig. Die Vorstellung, Spiritual Care liesse sich irgendwie «neutral» praktizieren, ist ein Widerspruch in sich. Ohne existenziellen Positionsbezug bleibt sie diffus und unglaubwürdig. Das ist wenig respektvoll Menschen gegenüber, die um sich selbst ringen.
Die eigene Position transparent zu machen ist also eine Form des Respekts. «Sie können mich doch nicht mit Beliebigkeit abspeisen wie ein Bademeister, der den Ring nicht wirft», erklärte mir eine 32-jährige Anorexie-Patientin, die buchstäblich um ihr Leben kämpfte, voller Ärger über die von ihr so empfundenen Neutralität des Seelsorgers. «Ich will wissen, worauf Sie vertrauen und was Sie trägt!», forderte sie sehr bestimmt, vielleicht gerade, weil sie in einem ganz anderen Kontext geprägt war, als dem christlichen. Dabei setzte sie selbstredend voraus, was für jede Begegnung selbstverständlich ist, dass eine subjektive Haltung kein Überredungsversuch und auch keine Zudringlichkeit ist, sondern ein Ausdruck der Wahrhaftigkeit und ­Authentizität.

Selbstkritik und Offenheit

Jede Positionierung in der Spiritual Care hat sich daher einer selbstkritischen Auseinandersetzung zu stellen, wie sie Geisteswissenschaften per definitionem eigen ist. Auch die Fachleute von Medizin, Psychologie und Pflege tragen ja – nebst dem objektivem Faktenwissen – ihre persönlichen Einsichten und Entscheide in die Behandlung ein und machen sie idealerweise als solche kenntlich, in einem reflektierten hermeneutischen Prozess.
Auf diesem Hintergrund darf sich auch der Autor dieses Beitrags der Pflicht zur Transparenz seines – in diesem Falle – christlich-abendländischen Deutungsrahmens nicht entziehen. In Kürze sei darum auf einige Eckdaten des theologischen Koordinatensystems hingewiesen, wie sie namentlich für die Begegnung mit Menschen in der Psychiatrie von Bedeutung sind.

Betroffene zur Autonomie befähigen

Theologie, das hat der Zürcher Ethiker Johannes Fischer nahegelegt, ist eine Wissenschaft, die es nicht mit metaphysischen Tatsachen zu tun hat, sondern mit der Erfahrung von Wirklichkeitspräsenz. Damit ist die Tiefendimension jener Wirklichkeit gemeint, aus der heraus Phänomene sichtbar werden – so wie etwa die liebevollen Zeichen der Zuneigung eines Partners zum anderen auf eine dahinterliegende Wirklichkeit deuten, eben den Geist der Liebe. Solcher Spiritualität in der Psychiatrie Raum zu geben, ist so etwas wie das gemeinsame Betreten eines alternativen Präsenzraums, der das Vorfindliche in ein anderes Licht setzt, weil in ihm ein belebender Geist weht. Bei der Präzisierung dieses Raumes spielt das spezifische christliche Gottesbild eine prägende Rolle, ist dieses doch sub­stanziell getragen von den lebensförderlichen Aspekten der Schöpferkraft, des Lösens und Befreiens. Christlich positionierte Spiritual Care darf darum kenntlich machen, dass sie mit den Auswirkungen solch schöpferisch-lösend-befreienden Lebensgeistes rechnet und alles ablehnt, was einengt und behindert.
Ihr Gottesbild ist zudem relational geprägt, also vom Beziehungsaspekt durchdrungen. Dies legt die klassische Denkfigur der Gottebenbildlichkeit nahe, die eine unverlierbare Würde des Einzelnen postuliert, welche in der Verbindung des Transzendenten zu ihm gründet. Daraus wächst unendlicher Respekt für dieses Leben, ob es wächst, stagniert oder vergeht. Auch misslingendes Leben behält in christlicher Deutung darum seinen Wert, seine Würde und seinen Sinn. Und es ermöglicht Beziehungen selbst dort, wo nach menschlichem Ermessen Beziehungen enden, sogar jene zuletzt und am Ende des Lebens. Dies, weil das Ich nicht nur am menschlichen Du entstehen kann, sondern, kraft der ihm eigenen Selbsttranszendenz, auch an einem Du jenseits der eigenen Welt. Vor allem aber eröffnet jene schöpferisch-lösend-befreiende Geisteskraft ein Leben in Eigenverantwortung und Autonomie. Denn sie appelliert an noch vorhandene Fertigkeiten und belebt sie von innen neu. Damit ordnet sie sich in das Axiom jeder psychiatrischen Behandlung ein, die ­Autonomie von Betroffenen zu wahren und zu stärken.

Transparent machen

Andere Ansätze, wie etwa islamische, buddhistische oder säkular-philosophische, werden ihre Grundhaltungen in vergleichbarer Weise offenlegen und selbstkritisch transparent machen, wenn sie sich in die Spiritual Care einbringen, namentlich im Blick auf ein lebensförderliches Menschen- und Gottesbild und dessen Begründung. Gerade in der Psychiatrie scheint solche Transparenz zwingend, weil Menschen mit psychischen Störungen äusserst sensibel auf Unklarheiten oder Verletzungen ihrer Integrität und vor allen auf die fehlende Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit ihres Gegenübers reagieren.
Solche Transparenz scheint aber auch im fachlichen Diskurs zwischen den Disziplinen notwendig zu sein, damit erkennbar wird, auf welchen «Spirit» die «Care» sich eigentlich präzise bezieht. Dies nicht zuletzt, um auch fundamentalistischen und unaufgeklärten Strömungen profiliert die Stirn bieten können. Dabei bleibt gewahrt, dass die von «Spiritual Pain» Betroffenen und nicht etwa ihre professionellen Gesprächspartner darüber entscheiden, wie und wo jemand seinen Lebens­odem spüren möchte und wes Geistes Kind er letztlich sein mag.
Reinhold Meier
St. Gallische Psychiatrie-Dienste Süd
Klinik St. Pirminsberg
CH-7312 Pfäfers
reinhold.meier[at]psych.ch