Ausstellung im Spitalgarten des Universitätsspitals Basel

Die verheerenden Käseschnitten

Horizonte
Édition
2017/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06012
Bull Med Suisses. 2017;98(38):1236-1238

Affiliations
Dr. phil., Historikerin

Publié le 20.09.2017

Im Sommer 1940 kam es zu einer gravierenden Massenvergiftung in der Schweizer Armee. Vier Tage nach dem legendären Rütli-Rapport von General Guisan gab es bei der Basler Mitrailleur-Kompagnie IV/52 Käseschnitten zum Nachtessen. Bei der Zubereitung wurde ein Kanister verwechselt: Er war mit Maschinengewehr-Kühlöl statt Speiseöl gefüllt. Das gleiche Vorkommnis wiederholte sich knapp drei Monate später bei der Schwyzer Mitrailleur-Kompagnie IV/72 im Tessin.
Bei den Maschinengewehrkompagnien war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs neu das Kühlöl, das giftiges ­Trikresyl-Phosphat enthielt, eingeführt worden. Beim Üben mit der Waffe wurde es zur Aufbewahrung auch in leere Speiseöl-Kannen abgefüllt.
Erkrankte Soldaten warten im Bürgerspital Basel auf den hohen Besuch von General Henri Guisan.

Der Vorfall

Nach einem nächtlichen Transport im Sommer 1940 hatte sich die Etikette von einem Behälter gelöst. In der Aufregung und im Chaos des Rückzugs ins Réduit und aufgrund von urlaubsbedingtem Personalwechsel ging die Übersicht verloren. So geschah die Verwechslung der Kanister, und dem Speiseöl wurde auf einem Bauernhof in Ramiswil (SO), wo ein Teil der Soldaten einquartiert war, auch das hochgiftige Kühlöl beigemischt.
Der General Henri Guisan kommt in Begleitung des Spital­direktors Gottfried Moser, um die Ölsoldaten zu besuchen.
Noch in der gleichen Nacht erkrankten 74 Soldaten und 12 Zivilpersonen, unter ihnen das kleine Mädchen der Bauernfamilie, an Magenkrämpfen. Diejenigen, die mit Heisshunger mehrere Käseschnitten gegessen hatten, waren langfristig etwas weniger betroffen, weil ihnen übel wurde und sie das Essen erbrachen. Die anderen litten weitaus stärker an den Folgen der Vergiftung.
Die Substanz Trikresyl-Phosphat wirkt gemäss Handbuch als Nervengift und führt langfristig zu neuro­logischen Symptomen wie Lähmungen, Schwindel, Kopfschmerzen, Ermüdungserscheinungen, Herz­rasen, Kurzatmigkeit sowie Glieder- und Muskelschmerzen.
Die erkrankten Wehrmänner wurden in die umliegenden Spitäler gebracht. Soweit möglich wurden sie anschliessend nach Hause entlassen. Bei vielen traten erst nach Wochen Lähmungen an Armen und Beinen auf. In der Folge wurde das Hotel Krone in Rheinfelden zum Zentrum für die Patienten eingerichtet. Dank seiner Solebäder war Rheinfelden als Badekurort bekannt geworden. Mit Bewegungsübungen, Bädern und Elek­trotherapie wurden die inzwischen schweizweit als «Ölsoldaten» bekannt gewordenen jungen Männer behandelt. In den meisten Fällen gelang es nach einem Jahr, den Muskelschwund zu stoppen, doch Ende 1941 galten immer noch zwei Drittel von ihnen als vollständig ­arbeitsunfähig. Viele besuchten Badekuren, manche für den Rest ihres Lebens.
Am 17. Oktober 1940 geschah bei der Schwyzer Mitrailleur-Kompagnie IV/72, die bei Faido im Tessin ihren Aktivdienst leistete, dasselbe. Dort assen 17 Soldaten vergifteten Salat. Bei der Essenszubereitung fiel das 
Öl nicht auf, weil es sich farblich und geschmacklich nicht vom Speiseöl unterschied. Weil sie sich rascher übergaben, blieben die Folgen weniger drastisch.
Blick in die Krankenzimmer der durch Maschinengewehr-Kühlöl vergifteten Soldaten.

Medizinische Behandlung

Die am schwersten betroffenen Soldaten wurden ins Bürgerspital Basel eingeliefert. In der medizinischen Klinik befassten sich Professor Rudolf Staehelin (1875–1943) und Oberarzt Rudolf Massini (1880–1954) mit dem unbekannten Krankheitsbild. Doch sie konnten nicht viel ausrichten. Weil es sich um einen Militärunfall handelte, war es angebracht, dass General Henri Guisan (1874–1960) die Militärpatienten im Bürgerspital besuchte und sich über die Behandlung informieren liess.

Die Militärjustiz

Der Vorfall wurde von der Militärjustiz untersucht. Die angeklagten Waffenmechaniker und Materialunter­offiziere wurden freigesprochen, da die «verantwortlichen Armeestellen nichts über die Giftigkeit des Kühlöls wussten», wie das Militärgericht den Freispruch begründete. In der Tat enthielt das Merkblatt, das den Truppen zum neuen Kühlöl abgegeben worden war, keinen Hinweis auf dessen Gefährlichkeit. Einzig der Truppenarzt der Mitrailleur-Kompagnie IV/52 wurde vom Divisionsgericht 4 zu 45 Tagen Festungshaft verurteilt, weil er sich erst nach dem dritten Telefonanruf und bei Morgengrauen um die an Krämpfen leidenden Wehrmänner kümmerte.

Der Kampf um finanzielle Unterstützung

Die aufgrund der damals geltenden gesetzlichen Grundlagen völlig ungenügenden Leistungen der Militärversicherung stellten viele Soldaten vor grosse finanzielle Probleme. Vor allem Bauern erhielten maximal 30 Franken Erwerbsausfallentschädigung pro Monat. Anderen wurde nur der vor dem Krieg geltende Lohn angerechnet, was bei den jungen Männern nicht viel war.
In mehreren Prozessen mussten die Betroffenen um ihr Recht kämpfen. 1947 erschienen Zeitungsartikel, die auf das Schicksal der Ölsoldaten aufmerksam machten. Nun setzte eine Spendentätigkeit auf privater Basis ein. Radio Basel startete die erste «Glückskette-Aktion» für die Ölsoldaten, was diese auch moralisch unterstützte. Und die Baselbieter Winkelried-
Stiftung nahm sich der Ölsoldaten an, die sich in einer Vereinigung organisiert hatten.
Im Nationalrat forderten mehrere Parlamentarier, 
den Wehrmännern seien zusätzliche Entschädigungen zu zahlen. Der Bundesrat lehnte diese Gesuche mit dem Hinweis auf die gesetzlichen Grundlagen ab. Die Unfälle bildeten schliesslich den wesentlichen Anstoss zur Revision des Militärversicherungsgesetzes. Das Bundesgesetz über die Militärversicherung war 1901 erlassen worden und ging auf das 1874 revidierte Gesetz über die Pensionen und Entschädigungen der im Militärdienst Verunglückten von 1852 zurück. Es ist das erste Sozialversicherungsgesetz der Schweiz überhaupt. Erst mit der revidierten Militärversicherung von 1950 verbesserte sich die finanzielle Situation der Ölsoldaten.
Die Ölsoldaten wurden im Männerkrankenhaus des Bürgerspitals Basel behandelt.
Die Tochter der Bauernfamilie, die damals auch eine Käseschnitte gegessen hatte, war hingegen nicht militärversichert. Sie wurde ein Jahr lang in einer Zürcher Spezialklinik behandelt, doch vergebens. Jahrelang musste ihr Vater für eine Unterstützung kämpfen. Die Militärverwaltung redete sich zunächst heraus, dass die gesundheitlichen Schäden schon vor der Ölver­giftung begonnen hätten. Selbst die Übernahme von kleinen Rechnungen wie für Schuheinlagen des geh­behinderten Mädchens lehnten die Behörden ab. Erst 1952, zwölf Jahre nach dem Unglück, kam es zu einem Vergleich. Die Militärverwaltung zahlte der 17-jährigen ­Jugendlichen eine Abfindungssumme von 6678 Franken «unter Verzicht auf alle weiteren Ansprüche und auf jeglichen Rektifikationsvorbehalt», wie sie schrieb. Fortan musste Marianne Meyer-Lisser selbst schauen, wie sie das Leben mit ihrer körperlichen Beeinträchtigung meisterte. Erst viel später wurde sie auf die Winkelried-Stiftung aufmerksam und erhielt jährlich eine kleine Rente.

Stein auf Stein

Die im Bürgerspital Basel betreuten Ölsoldaten sind eines der verschiedenen Themen, mit der sich die Open-Air-Fotoausstellung «Stein auf Stein – 175 Jahre Spitalareal» im Spitalgarten des Universitätsspitals befasst. Bis Ende Oktober sind die Plakate, Objekte und historischen Filme zu sehen.
Täglich 8–20 Uhr. Eintritt frei.
Sabine Braunschweig arbeitet als promovierte Historikerin im ­eigenen Büro für Sozialgeschichte in Basel. Sie hat die Fotoausstellung «Stein auf Stein – 175 Jahre Spitalareal» kuratiert.
Der Artikel basiert auf zeitgenössischen Quellen und Lexikonbei­trägen. Einzelnachweise auf Nachfrage bei der Autorin.
Dr. Sabine Braunschweig
Büro für Sozialgeschichte
Dornacherstrasse 192
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Brauschweig[at]
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