«Schein-nicht-Invalidität»

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/2627
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05802
Bull Med Suisses. 2017;98(2627):864

Publié le 27.06.2017

«Schein-nicht-Invalidität»

Brief zu: Brühlmeier Rosenthal D. Soziales Elend nach 
Stopp oder Verweigerung von IV-Renten. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(24):785–7.
Eigentlich wäre es ja wünschenswert, wenn ein Mensch das Etikett «wertlos – invalid» verliert und dass ihm wieder Wert und Gültigkeit zugesprochen wird. Doch in der Realität ist es oft eine «Schein-nicht-Invalidität» und dies halte ich auch als Klinik-Psychiater für nicht akzeptabel: Spontan fallen mir ähnliche Schicksale ein, die mich ohnmächtig erscheinen liessen. Ich habe bei Patienten extreme Verschlechterungen erlebt mit monatelangen Klinikaufenthalten, Suizidversuchen, Armut und im Leid erschütterten Familien. Nach der Lektüre des Artikels war ich berührt und ­andererseits beschämt, selbst noch nicht gehandelt zu haben. Seltsamerweise ist mir die Thematik auch in der Presse nicht begegnet. Doch eigentlich wären ja auch die Sozialämter in der Pflicht, öffentlich zu machen, was geschieht; auf die werden ja meist die Kosten umgewälzt.
Es ist die Aufgabe der IV und gar kein Wunder, dass sich die Empfänger einer Rente stabilisieren, wenn ihre Existenz gesichert ist und sie nicht mehr beim Sozialamt oder irgendwo betteln müssen. Wie zerbrechlich sie dennoch sind, müsste doch uns Fachleuten allen klar sein. Ich wundere mich auch manchmal über unsere Kollegen als Gutachter, von denen manche psychiatrische Krankheiten entweder kaum kennen oder einfach hier Hand bieten.
Ich habe nicht in Erinnerung, dass es zu Massnahmen der Wiedereingliederung gekommen wäre, bevor die Rente gestrichen wurde. Auch von Nachuntersuchungen, was aus diesen Menschen wird, ist mir nichts bekannt. Wie viele finden tatsächlich Arbeit? Wie viele stranden bei den Sozialämtern, wie viele sterben an Suizid? Diese Zahlen zu erheben, müsste doch auch im Auftrag der IV enthalten sein, wenn sie ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen soll. Sicher kann manchmal etwas Druck nicht schaden, aber der müsste ein­gebettet sein in ein Konzept der Wieder­eingliederung mit einem grundsätzlichen Vertrauen in die Betroffenen. So könnten begleitet Schritte in die Unabhängigkeit ermöglicht werden. Aktuell herrschte ein Klima des Misstrauens und der Angst bei sehr vielen IV-Empfängern – wen trifft es als nächsten?
Die Recherchen und das Anliegen von Kol­legin Brühlmeier sind bewundernswert. Es braucht einen öffentlichen Aufschrei. Denn hier kommt es vor unseren Augen zur bürokratisch legitimierten Verantwortungslosigkeit gegenüber den Schwächsten, und wir ­sehen einen Rückfall in die, beinahe überwunden geglaubte, Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Störungen. Oft sind es Menschen mit Migrationshintergrund, die doppelt stigmatisiert sind. Es ist ausserordentlich schäbig, dass Menschen in unserer Gesellschaft von der IV so behandelt werden. Dass kranken, schwachen und leidgeprüften Menschen ein würdevolles Leben ermöglicht wird, kommt ihnen, ihren Angehörigen und letztendlich uns allen zugute.