Diskurs um Krankenkassenprämien

Behandlungsqualität und Rationierung in der Krankenversicherung

Organisationen der Ärzteschaft
Édition
2017/2829
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05677
Bull Med Suisses. 2017;98(2829):896–897

Affiliations
RA lic. iur., Geschäftsführer des Bündner Ärztevereins

Publié le 12.07.2017

Heinz Brand, SVP-Nationalrat und Präsident von santésuisse, behauptete in einem Artikel des Bündner Tagblatts vom 14. März 2017 Folgendes: In der obligatorischen Krankenversicherung würden jedes Jahr rund 20% unnötige und ungenügende Leistungen verrechnet werden. Dr. med. Heidi Jörimann, Präsidentin des Bündner Ärztevereins, antwortet Heinz Brand in einem offenen Brief.
Unter dem Titel «Morgen droht die Rationierung in der Krankenversicherung» hat Heinz Brand, SVP-Nationalrat und Präsident von santésuisse, im Bündner Tagblatt vom 14. März 2017 einen Artikel über die Krankenkassenprämien veröffentlicht. Dabei stellte er die Behauptung auf, in der obligatorischen Krankenversicherung würden jedes Jahr rund 20% überflüssige und qualitativ unzureichende Leistungen verrechnet werden. Das sei unannehmbar. Abhilfe könne nur mehr Qualität und Effizienz schaffen. Eine Rationierung von Leistungen sei keine Option. Die Politik müsse dort ansetzen, wo 20% der medizinischen und medikamentösen Leistungen eingespart werden könnten, ohne dass die Pa­tientinnen und Patienten einen Nachteil hätten. «Im Gegenteil: Sie würden physisch, psychisch und finan­ziell weniger belastet.» Die Politik habe dafür zu sorgen, dass die Qualität im Gesundheitssystem mess­barer und transparenter ausgewiesen werde. Schlechte oder nicht ausgewiesene Qualität werde es schwierig haben und zunehmend verschwinden.

Ärzteschaft wehrt sich gegen Qualitäts­transparenz

Heinz Brand stellte dann die Behauptung auf, die Vertreter der Ärzteschaft würden sich heute noch mit Händen und Füssen gegen die geforderte Qualitätstrans­parenz wehren. Gerade diese Qualitätsförderung würde das Vertrauen in die medizinische Kunst stärken. «Vor allem aber liessen sich mit der qualitätsbasierten Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems überflüssige und schädliche Leistungen vermeiden, ohne dass radikale Massnahmen zur Kosteneindämmung getroffen werden müssen, die letztlich zu Lasten der Patientinnen und Patienten gingen.» Die zurzeit in Bundesbern verlangten Pauschalbudgets könnten so umgangen werden. Denn solche Pauschalbudgets würden immer mit der Rationierung der medizinischen Leistungen einhergehen. Am meisten von Globalbudgets und Ratio­nierung wären jene Regionen betroffen, die einen überdurchschnittlich hohen Bevölkerungsanteil aufweisen, der in den nächsten 20 Jahren in die teuren Spital- und Pflegeheimjahre kommen werde.

Antwort in einem offenen Brief

Die Präsidentin des Bündner Ärztevereins, Frau Dr. med. Heidi Jörimann, hat in einem offenen Brief Herrn Heinz Brand dazu geantwortet:
Von Seiten der Versicherer und Politiker wird immer wieder behauptet, dass 20% der Leistungen überflüssig seien. Diese Zahlen können nicht belegt werden. Eine Behauptung wird nicht «wahrer», wenn man sie häufig wiederholt und sich gegenseitig abschreibt.
Gerade die Forderung der Politik, die Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems zu mehr, das heisst messbarer und ausgewiesener Qualität zeigt, dass diese Behauptung nicht stimmt. Die Versicherer messen die Qualität einer medizinischen Leistung nur an den Zahlen der Leistungserbringer, ohne dahinter den Patienten zu sehen. Benötigt eine Ärztin / ein Arzt bei einer Patientin / einem Patienten etwas mehr Zeit als bei anderen oder als andere Kollegen, so scheint das den Versicherern als überflüssige und qualitativ unzureichende Leistung. Wie es schlussendlich aber den Patienten geht, interessiert sie nicht. Die Qualität misst sich nicht an den Zahlen, sondern am Wohlbefinden des Patienten. Dieser ist mündig und meistens sehr gut über seine und die Möglichkeiten der Medizin orientiert. Er weiss, was er will, und er verlangt es auch. Dabei das richtige Mass zu finden ist in manchen Fällen schwierig; darf aber nicht allein von den Kosten abhängig gemacht werden. Die Aufklärung ist hier das wesentlichste Merkmal der Qualität. Dafür setzen sich Ärztinnen und Ärzte ein.

Ärzteschaft sorgt für Qualitätskontrollen

Entgegen der Behauptung, die Ärzte würden sich gegen Qualitätskontrollen wehren, erstellt die Ärzteschaft die Qualitätskontrollen auch selber: Die SAQM der FMH stellt Regeln auf, die Fachgesellschaften erstellen Guidelines, in Qualitätszirkeln werden Standards erarbeitet. Ausserdem müssen Ärztinnen und Ärzte laufend qualitativ hohe ­Anforderungen erfüllen; bereits mit dem Staatsexamen, dann mit den Facharztprüfungen und jedes Jahr mit dem zu erbringenden Fortbildungsnachweis. Wir stehen in ­einem lebenslangen Lernprozess, der streng reglementiert und kontrolliert wird.
Das Korsett der Gesetze und Verordnungen im Gesundheitswesen wird immer enger und schränkt zunehmend die therapeutische Freiheit ein. Am Ende stellt sich die Frage, wer über Abklärungen und Therapie gemeinsam mit dem Patienten entscheidet: der Arzt, die Guidelines, der Apotheker, die Krankenkassen oder der Staat? Eine Rationierung der medizinischen Leistungen über Pauschalbudgets darf nicht eintreten. Es geht um die freie Selbstbestimmung und um die Entfesselung von einer Bevormundung.
Da ein Mensch nicht wie eine Maschine funktioniert, wird es noch dauern, bis wir per Knopfdruck auf dem Computer sofort die richtige Diagnose erhalten und erklärt bekommen und dann auch die dazu passende sichere und wirksame Therapie.
Schiers, im Mai 2017
Dr. med. Heidi Jörimann,
Präsidentin Bündner Ärzteverein
Bündner Ärzteverein
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