“Postfaktisch“: das extrafaktische Unwort des Jahres 2016

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05306
Bull Med Suisses. 2017;98(0102):25

Publié le 10.01.2017

«Postfaktisch»: das extrafaktische ­Unwort des Jahres 2016

Zum Beitrag von Romanens M. 
Post­faktische Medizin? In: Schweiz Ärztezeitung 2016;97(51–52):1787.

Michel Romanens wählt für seinen Beitrag in der SÄZ vom 21. Dezember 2016 den Titel Postfaktische Medizin?. Anlass zu den folgenden Überlegungen ist die Wahl von «postfaktisch» zum Wort des Jahres 2016 durch die GfdS (Gesellschaft für deutsche Sprache). Ein Faktum (vom Lateinischen «facere»: «machen») bedeutet etwas Gemachtes, etwas Bewirktes, eine Tatsache («etwas, das ist»). Ein Faktum ist unter anderem, dass das lateinische «post» (als Präposition oder Adverb) sowohl zeitlich («nach», «danach») als auch räumlich («hinter, dahinter») verwendet werden kann. Soviel zur Definition der Wortbestandteile.
Wenn man ein postfaktisches Zeitalter postuliert, bedeutete dies, dass diesem ein genau definiertes faktisches Zeitalter vorangegangen und jetzt abgeschlossen sein müsste. Wie aber würden wir dieses faktische Zeitalter definieren? Etwa als das Zeitalter, in dem ausschliesslich Fakten und Wahrheiten den politischen und gesellschaftlichen Diskurs bestimmten? Wohl kaum, denn diese an sich wunderbare hypothetische Vision wurde durch die Geschichte der Menschheit bereits von allem Anfang an als Illusion widerlegt. Es gab gar nie ein faktisches Zeitalter im obengenannten Sinn, auch nicht in letzter Zeit. Somit ist «postfaktisch», zumindest in diesem Kontext, ein absolut faktenfreier und somit völlig falscher Neologismus.
Postfaktisch in dieser Form als Beschreibung eines Zeitalters wird allerdings eher selten gebraucht. Postfaktisch wird fast überwiegend und zunehmend inflationär zur Beschreibung der überbordenden Unsitte verwendet, dass aktuell bestehende und unbestrittene Tatsachen und Wahrheiten in bewusst manipulativer Absicht umgedeutet oder gar geleugnet werden. Auch offensichtliche Lügen werden als neue Tatsachen neben (im übertragenen Sinn «räumlich») das tatsächliche Faktum gestellt und in populistischer Manier geschickt als neue Wahrheiten ausgegeben (und erstaunlicherweise von immer mehr Bürgern auch als solche wahrgenommen). «Political framing» ist eine nicht mehr ganz neue Umschreibung der Erkenntnis, dass durch geschickte (je nach Standpunkt) Wortwahl oder durch populistische Wortschöpfungen eine ganz neue Wahrnehmungskaskade in Gang gesetzt werden kann. «Perception is reality» soll der AfD-Barde Georg Pazderski in umwerfender Offenheit dazu einmal gesagt haben. Vielleicht hiesse es korrekter «Perceptions (can) create new realities». Um diese Wahrheitsmanipulation zu benennen, ist «postfaktisch» jedoch ein sprachlich und faktisch völlig falscher Begriff, weil die effektiven Fakten ja noch immer Bestand haben und nicht der Vergangenheit («post» zeitlich als «nach» übersetzt) angehören. Die Lüge wird auch nicht hinter das Faktum («post» räumlich mit «hinter», «dahinter» übersetzt) gestellt, sondern davor, darüber oder daneben. Somit wäre der folgende zirkuläre Schluss zulässig: Würde postfaktisch im Wortsinn des Jahres angewandt, so wäre «postfaktisch» selbst eine postfaktische (falsche und hier selbstlimitierende) Wortschöpfung. Korrekt wären die Begriffe iuxta-, extra- oder suprafaktisch («iuxta» für «neben», «daneben», «extra» für «ausserhalb» oder «supra» für «oberhalb», «darüber»). Extra­faktisch scheint mir am ehesten vermittelbar zu sein. Darum der, wie ich meine, zulässige Schluss: «Postfaktisch», das extrafaktische Unwort des Jahres 2016.