Cardiovascular Round Table 2016 – Gesundheitswesen zwischen Markt und Regulierung

Ist eine Therapie von 150'000 Franken vertretbar? – Gesundheitswesen zwischen Markt und Regulierung

Tribüne
Édition
2017/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05274
Bull Med Suisses. 2017;98(08):259–261

Affiliations
Dr. med., Ärztin und Journalistin

Publié le 22.02.2017

An das berühmte Karnevalslied von 1948 fühlte man sich beim diesjährigen CARTA-Treffen erinnert: «Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?» Das Lied sollte ­damals eine Anspielung sein auf die durch die Währungsreform ausgelösten Preissteigerungen in Deutschland. «Wer soll das bezahlen?», fragen immer öfter auch Gesundheitspolitiker – und sie haben recht. Das diesjährige CARTA-Treffen lieferte kreative Ansätze.
«Wir können uns den Fragen der Politiker nicht mehr entziehen», sagte Thomas Lüscher, Direktor der Kardiologie am Unispital Zürich. «Die Medizin ist erfolgreich geworden und wir können immer mehr Krankheiten heilen, aber das ist mit hohen Kosten verbunden.»
Thomas Lüscher: «Die Medizin ist erfolgreich geworden und wir können immer mehr Krankheiten heilen, aber das ist mit hohen Kosten verbunden.»
Lag es am Ort oder an den brisanten Themen, dass die CARTA-Veranstaltung vom Zurich Heart House dieses Jahr inspirierender wirkte als die vergangenen Jahre? In den altehrwürdigen Kursaal im Sorell Hotel Zürichberg hatten Ruth Amstein, Direktorin des Zurich Heart Houses, und Thomas Lüscher eingeladen. «Gesundheitswesen zwischen Markt und Regulierung» lautete diesmal das Thema. «Beim CARTA Meeting wollen wir Zukunfts­fragen des Gesundheitswesens diskutieren», sagte ­Amstein, «der stetige Anstieg der Krankenkassenprämien durch Überversorgung, Fehlversorgung und Mengenausweitung ist ein Problem, dem wir uns stellen müssen.»

Kostentreiber mit fraglichem Nutzen

Eines der brisantesten und meist diskutierten Themen hierbei sind teure Medikamente, vor allem Biologika. Kann sich die Schweiz das weiterhin leisten? Ist die Verordnung einer Behandlung von 150 000 Franken überhaupt vertretbar? Die Antwort darauf sei ein klares «Jein», versuchte Beat Thürlimann, Chefarzt und Leiter des Brustzentrums am Kantonsspital St. Gallen, das Dilemma in ein Wort zu fassen. «Oder besser gesagt: Es kommt darauf an.» Thürlimann weiss gut, dass Biologika gerade in der Krebsmedizin ein Segen für viele Patienten sind: Mit dem Antikörper Trastuzumab können beispielsweise viele Frauen mit Brustkrebs heutzutage geheilt werden, und mit Kombinations-Therapien lässt sich das Leben vieler Patientinnen deutlich verlängern, heute durchschnittlich um das Vierfache. Andererseits sind Biologika und andere neue Medikamente ein enormer Kostentreiber mit oft moderatem Nutzen: Die neue Kombi-Therapie bei Melanom, selbst ohne Biologika, verlängert das Leben im Schnitt um ­einige Monate, kostet aber 40 Prozent mehr, und eine neue Kombinationsbehandlung bei Brustkrebs liegt gar 120 Prozent über der bisherigen Therapie.
Ob wir uns das weiterhin leisten können, kommt auf den Standpunkt an: Auf den des Patienten, des Arztes, des Spitals, der Krankenkassen oder der Industrie, um nur einige zu nennen. «Der Arzt hat die Pflicht, den Nutzen im Einzelfall zu beurteilen», so Thürlimann. «Er muss sagen, ob es bei dem Patienten medizinisch sinnvoll ist und der Situation angemessen.» So würde man möglicherweise bei einer jungen Frau mit Brustkrebs anders entscheiden als bei einer 86-jährigen Dame mit zusätzlichen Gesundheitsproblemen. «Für die Entscheidung braucht man ein solides Wissen über den Patienten, die Krankheit und die wissenschaft­liche Evidenz.»
Ist die Verordnung einer Behandlung von 150 000 Franken vertretbar? Die Antwort darauf sei ein klares «Jein», sagt Beat Thürlimann.

Braucht der Patient immer die neueste Innovation?

Es gehe nicht darum, nur eine Krankheit zu behandeln, sondern den Patienten. Braucht er gerade jetzt diese Behandlung, diese Untersuchung? Braucht er ­unbedingt immer und zuerst die neueste Innovation? Er sei ständig dabei, auf die Bremse zu treten, berichtete Thürlimann aus seinem eigenen Krankheits­gebiet. So sei beispielsweise beim frühen Mammakarzinom eine präoperative MRI unnötig, ein staging mit PET-CT oft nicht sinnvoll, und auch Gensignaturtests nicht. Bei einer Chemotherapie sollte man ein Regime ohne Wachstumsfaktoren bevorzugen, denn Schemata ohne die Faktoren wirken meist ebenso gut, seien aber deutlich günstiger. Hat eine Frau mit metastasiertem Brustkrebs auf zwei Chemotherapien nicht angesprochen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass eine dritte wirkt. «Aber statt mit der Frau zu sprechen, was man sonst noch tun kann, dass ihr restliches Leben ­erträglich ist, verschreiben viele lieber eine dritte Chemo», erzählt Thürlimann. «Das ist für alle ein­facher.» Der «Super-GAU» für Ärzte sei, wenn es ein ­Medikament gäbe und die Indikation gegeben sei, aber man es nicht verschreiben könne, weil der Patient es nicht bezahlen könne. «Medikamenten-Preise dürfen nicht Sache des Arztes sein. Darüber müssen sich Pharmafirmen und Regulierer, also Politiker einigen.»

Hightech-Industrie mit hoher ­Wertschöpfung

In Zukunft werden die Ausgaben vermutlich noch steigen: Wir werden beispielsweise immer älter und bekommen häufiger Krebs, und immer öfter werden bei Krebs «Erhaltungstherapien» erfolgreich verabreicht, die eine jahrelange Therapie erfordern. Eine ganz andere Sicht hat die Volkswirtschaft: Die Pharmaindus­trie ist die Nummer 1 beim Export in der Schweiz, und es ist eine Hightech-Industrie mit hoher Innovation und hoher Wertschöpfung, die hohe Einkommen und Steuern generiert. So wundert es nicht, dass Industrie-gesponserte Studien dazu tendieren, neue Medikamente in einem besseren Licht darzustellen, und ungünstige oder unbedeutende Resultate werden seltener publiziert als in nicht-gesponserten Studien [1].
Allerdings ist das Einsparpotential im Rahmen der ­Gesamt-Gesundheitskosten limitiert: Krebsmedikamente machen nur 1% der Gesundheitskosten aus. «Wir müssen auch unsere anderen Hausaufgaben machen», so Thürlimann. «Also zum Beispiel falsche Anreize für stationäre Therapien beseitigen, unsere Infrastruktur mit Überkapazitäten um- und abbauen, nicht notwendige Untersuchungen ohne therapeutische Konsequenzen vermeiden oder teure Therapien, wenn es eine preisgünstigere Alternative gibt, die ebenso angemessen ist und gut wirkt.» Und man sollte vielleicht mal den eigenen Lebensstil überdenken. Pro Person und Jahr werden in der Schweiz rund 445 Franken für Zigaretten ausgegeben [2] und 323 Franken für IT und Kommunikation [3]. Für Krebsmedikamente gab die Schweiz dagegen 2014 weniger als 70 Franken pro Person und Jahr aus.

Das Unispital der Zukunft

Dass die Unispitäler einen grossen Beitrag leisten können, um einerseits innovativ zu sein und gleichzeitig die Kosten zu senken, berichtete Gregor Zünd, Vorsitzender der Spitaldirektion am UniversitätsSpital Zürich, in seinem «Zukunftsszenario» der universitären Medizin. Er sieht sechs Trends, die eine immer wich­tigere Rolle spielen: die sogenannte personalisierte Medizin, die koordinierte Versorgung, Selbstmanagement durch Patienten, Forschung als Teil der Behandlung, Mobile Health und Prävention als Teil der Versorgung. «Mit Mobile Health kann man enorm die Kosten senken», sagte Zünd. So würde man zum Beispiel viel Geld sparen, wenn Ärzte nicht erst Krankheiten behandeln würden, sondern frühzeitig intervenieren könnten, bevor eine Pathologie aufträte. Ein Beispiel hierfür könnten Sensoren für Asthmatiker sein, die USZ und ETH gemeinsam entwickelt haben. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit sollen die Sensoren vorhersagen, ob ein Patient in den kommenden Stunden einen Asthma­anfall haben wird. «Würden wir dann den Patienten anrufen und ihn bitten, ins Spital zu kommen, könnten wir entsprechende Medikamente geben und Schlimmeres verhindern.» Mit Hilfe von Mobiltelefonen, ­Zusatzgeräten und Apps lässt sich jederzeit der Herzrhythmus aufzeichnen und analysieren und mög­licherweise wird man in Zukunft per Push-Meldung vor einem drohenden Herzinfarkt gewarnt. Mit der personalisierten oder Präzisionsmedizin spart man unnötige Ausgaben: Ein teures Krebs-Medikament bekommen nur die Patienten mit einem bestimmten Subtyp, bei dem nachgewiesen ist, dass das Präparat auch wirkt.
Gregor Zünd: «Eines darf trotz Digitalisierung nicht verloren gehen: der persönliche Kontakt.»
In Zukunft arbeiten Spezialisten in Spital oder Praxis, Hausarzt, Case Manager, Pflegefachkräfte, Gesundheits-Coaches und andere Experten eng zusammen. «So können wir die Patienten früher aus dem Spital entlassen», sagte Zünd. «Die Voraussetzung dafür ist aber, dass der ambulante Bereich gestärkt wird.» Dass die Zusammenarbeit funktioniert, gewährleistet das Internet, zum Beispiel mit einer lückenlosen Dokumentation in der digitalen Krankenakte, IT-Lösungen für Biobanken oder Plattformen für kombinierte Auswertungen von Daten aus Forschung und klinischem Alltag. «Digitalisierung und Datenanalytik werden die Medizin stark verändern», sagte Zünd. «Wir entwickeln uns zu einer hochspezialisierten Medizin, die Präzi­sions­medizin mit einer integrierten und koordinierten, patientennahen Versorgung verbindet.» Verändern sollte sich auch die Zusammenarbeit zwischen den Ärzten. «Wir werden in Zukunft krankheitsbezogen ­zusammenarbeiten. Die zukünftige Medizin verlangt nach einer flacheren Hierarchie, die vermehrt die Zusammenarbeit fördert. Wir brauchen mehr, dafür kleinere Lehrstühle.» Für die optimale Versorgung von chronischen und multimorbiden Patienten müssen zudem die Versorgungsstrukturen eng, integriert und gemäss ihren Rollen und Fähigkeiten zusammenarbeiten. «Patientenorientierte Medizin erfordert eine Versorgung, die die Patienten dort erreicht, wo sie leben.» Denn eines dürfe trotz aller Digitalisierung nicht verloren gehen: der persönliche Kontakt. Sei es zwischen Arzt und Patient oder zwischen denen, die sich um das Wohl des Patienten kümmern: «Beim gemeinsamen Kaffee werden Ideen geboren, da wird Forschung betrieben, das darf auf keinen Fall verloren gehen», schloss Zünd. So angeregt, wie Referenten und Publikum beim anschliessenden Apéro diskutierten, wurde das eine oder andere Forschungsprojekt durchaus geboren.
Dr. med. Felicitas Witte
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