Wähnen wir uns nicht in falscher Sicherheit (mit Replik)

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Édition
2023/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2023.21670
Bull Med Suisses. 2023;104(17):0-24

Publié le 26.04.2023

Der Autor Patrick Müller erweckt den Eindruck, die Acta Wirtschaftlichkeitsverfahren sei auf gutem Weg. Die Einzelfallprüfung der Praxisbesonderheiten hat kaum Beweiskraft. Daran ändert auch der neue WZW-Vertrag nichts. Die Vorverurteilung durch das Screening wird durch die PVK-Mechanismen zumeist zementiert, es resultiert dann bloss noch der Vorschlag für Vergleiche. In der Realität identifiziert santésuisse nach wie vor auf der Basis eines Screening-Verfahrens viel zu viele Praxen als auffällig. Fakt ist, dass santésuisse noch immer mit Datenbasen arbeitet, in denen aufgrund von Ausreissern ganze Vergleichsgruppen dahingehend verzerrt werden, dass absurd viele Praxen als auffällig erscheinen (31% FAG 153 2018/2019). Wir vom VEMS haben einen solchen Fall bereits im Juni 2016 aufgedeckt und publiziert [1]. Nun liegt uns ein laufender Fall vor, wo wir nach Prüfung der Daten exakt dasselbe Muster in der Facharztgruppe 153 erkennen und wir den Kolleginnen und Kollegen nur noch empfehlen können, sämtliche daraus resultierende Regressforderungen von santésuisse abzuweisen oder bezahlte Regresse zurückzufordern. Der damalige Leiter Leistungserbringer-Assessment von santésuisse, Dr. rer. oec. Lukas Brunner, hat den Fehler mit einer falschen Datenerfassung bei einem Leistungserbringer begründet [2], ohne dass die davon betroffenen Verfahren revidiert wurden. Es ist schon etwas naiv, vor dem Hintergrund solch gravierender Fehler im Datenmanagement den Versicherern mit dem neuen Vertrag de facto die Hoheit über die Daten und damit über die Beweismittel in den Verfahren zu übertragen.
Dr. med. Michel Romanens, Verein Ethik und Medizin Schweiz, Basel

Replik auf «Wähnen wir uns nicht in falscher Sicherheit»

Das Krankenversicherungsgesetz schreibt in Art. 56 Abs. 6 vor, dass die Versicherer und Leistungserbringer eine gemeinsame Methode zur Wirtschaftlichkeitsprüfung (im Sinne eines Pauschalbeanstandungsverfahren) vereinbaren. Ebenso sind die Krankenversicherer nach Art. 56 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) verpflichtet, zu überprüfen, ob die Leistungserbringer ihre Leistungen nach dem Gebot der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW-Kriterien gemäss Art. 32 KVG) erbringen. Im Vertrag zu Art. 56 Abs. 6 KVG haben santésuisse, curafutura und die FMH die statistische Screening-Methode als ersten Schritt der Wirtschaftlichkeitsprüfung vertraglich geregelt. Diese Screening-Methode hat zum Ziel, mittels statistischer Methoden Leistungserbringer mit auffälligen (zu hohen) Kosten zu identifizieren. Massgebend neben der Screening-Methode sind die Datengrundlagen für die Berechnung der Indices basierend auf dieser Methode. Mit der seit dem Jahr 2018 vertraglich festgelegten Regressions-Methode konnte die Zahl der potenziell auffälligen Ärztinnen und Ärzte gegenüber der alten ANOVA-Methode halbiert werden. Mit dem neuen Vertrag müssen die Versicherer den Abdeckungsgrad der Datengrundlage gegenüber dem Leistungserbringer transparent offengelegt werden. Ebenso kann der betroffene Leistungserbringer die Offenlegung des Vergleichskollektivs verlangen. Wichtig festzuhalten ist, dass erst in der darauffolgenden zwingend notwendigen Einzelfall-Beurteilung des ärztlichen Leistungserbringers festgestellt werden kann, ob tatsächlich eine Überarztung vorliegt respektive der Leistungserbringer effektiv unwirtschaftliche Leistungen erbringt, oder ob die auffällige Kostenstruktur aufgrund des Screeningverfahrens durch andere Faktoren (spezifische Praxisbesonderheiten) erklärt werden kann. In dieser anschliessenden Analyse können vom betroffenen Leistungserbringer die Praxisbesonderheiten, die nicht oder nur teilweise durch die Screening-Methode berücksichtigt werden, in die Argumentation eingebracht werden. Mit dem neuen Vertrag konnten damit zahlreiche Verbesserungen für Ärztinnen und Ärzte erreicht werden. Die Frage ist auch, was ist die Alternative zu einer vertraglichen Lösung – denn das Gesetz schreibt eine vertraglich vereinbarte Methode vor. Bei Fehlen eines solchen Vertrags kann die zuständige Behörde die bisherige Methode oder eine neue festsetzen, ohne dass die wichtigen Anliegen und Interessen der Ärzteschaft, welche jetzt ebenfalls im Screening Vertrag geregelt sind, berücksichtigt werden müssen.
Patrick Müller, Leiter Abteilung Ambulante Versorgung und Tarife, FMH