Die fehlende Zeit mit den Patienten ist das zentrale Problem

Briefe an die Redaktion
Édition
2022/43
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.21180
Bull Med Suisses. 2022;103(43):22

Publié le 25.10.2022

Die fehlende Zeit mit den Patienten ist das zentrale Problem

Im Artikel werden die gegenwärtigen Zustände der ärztlichen Versorgung mit Recht als unwürdig beschrieben, weil genügend Zeit für das Patientengespräch fehlt, wegen Zunahme des administrativen Aufwands, hoher Arbeitsbelastung, Zeitdruck und Ökonomisierung. Gefragt seien Lösungsmodelle wie Cafémed und Sprechzimmerplus. Die fehlende Zeit und Aufmerksamkeit für das Gespräch mit Patienten ist tatsächlich das zentrale Problem der Ärzte, welches nicht nur die Befindlichkeit im Berufsleben, sondern auch die Versorgungsqualität beeinträchtigt. Die Gründe werden aber ungenügend erfasst und das Zeitproblem der praktizierenden Ärzte weder durch pensionierte Ärzte noch durch Querfinanzierungen gelöst. Diese stellen lobenswerte Symptombekämpfungen dar. Wie Ökonomieprofessor Mitterlechner schreibt, braucht es «Lösungen im Kern des Gesundheitswesens». In unserer marktwirtschaftlich orientierten, neoliberalen Leistungsgesellschaft hat die Ökonomisierung nicht haltgemacht vor dem Gesundheitswesen, was der Marktlogik entsprechend der Zunahme von Administrationsaufwand, Arbeitsbelastung und Zeitdruck erklärt: Die Leistungen müssen bis ins Detail abgebildet (Admin), der Patientendurchlauf pro Zeiteinheit erhöht werden (Arbeitsbelastung, Zeitdruck). Zuerst muss es rentieren, danach kann man über die Menschlichkeit diskutieren. Im Gesundheitswesen bedeutet Ökonomisierung eine Integration von Marktprinzipien, wie sie für Handelswaren üblich sind, in einen Bereich, in welchem primär fürsorgerische Prinzipien die Handlungsrichtlinien vorgeben. Medizinische Handlungen werden darin quasi als Produkte neu gedacht und gewertet. Damit dringt marktwirtschaftliches Denken in fürsorgerische Bereiche der Gesellschaft vor. Gesundheitliche Institutionen waren bis vor 100 Jahren generell nicht profitorientiert und dienten der optimalen Versorgung der lokalen Bevölkerung. Wie Professor Mitterlechner beschreibt, ist eine gewisse und mit Vorsicht angewendete Ökonomisierung im Gesundheitswesen notwendig. Damit wird Zeit für den Patienten gewonnen. Sie muss aber dem Gemeinwohl dienen, und wie er schreibt, sei «die Entwicklung in eine rein profitorientierte Kommerzialisierung kritisch zu betrachten». Die jetzt gültige zeitliche Limitierung der Entschädigung des Patientengesprächs stellt prinzipiell das Grundproblem dar, welches dringend anzugehen ist. Die Lösungsansätze der angesprochenen Problematik bedürfen einer separaten sorgfältigen Darstellung.
Dr. med. Bernhard Estermann, Allgemeinmedizin, Malters