Covid-19 – Emotionen und intellektuelle Redlichkeit

Briefe / Mitteilungen
Édition
2022/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20865
Bull Med Suisses. 2022;103(2526):857

Publié le 22.06.2022

Covid-19 – Emotionen und intellek­tuelle Redlichkeit

Die Covid-19-Pandemie hat erneut gezeigt, dass Angst und Respekt zwei verschiedene Dinge sind. Respekt macht es möglich, Verantwortung zu tragen, was man letztlich nur aus freien Stücken tun kann. Die Angst hingegen lässt der Freiheit keinen Raum. Sie hat etwas Drängendes, Zwingendes, Alternativloses und sie bedroht die Struktur der Vernunft. Wenn die Vernunft nicht obsiegt oder wir uns nicht beruhigen können, dann bricht unterschwellig Panik aus, welcher wir mit Zwangshandlungen begegnen. Zwangshandlungen dienen der Abwehr von Angst und müssen, wenn dies gelingt, nicht belastend sein. Die Vernunft hat da allerdings keine Chance.
In der Pandemie spürte man den Kampf zwischen Respekt und Angst, zwischen Vernunft und Emotionen. Die Verantwortung hätte einen präzisen und grösstmöglichen Schutz für die schon bald erkennbare Risikopopulation geboten. Das wäre wohl möglich gewesen, wurde aber nicht einmal versucht. Denn angesichts der Bilder des vermummten Erstickens überflutete eine Welle der Angst nicht nur die breite Bevölkerung, sondern wahrscheinlich auch die Politik und führte zu einem Flächenfeuer von Massnahmen, in das stets neue Prognosen und Szenarien bliesen, sodass sie oft genug den Charakter des «ut aliquid fiat» und trotz dezidierter Rationalisierung Züge von Zwangshandlungen hatten. Das störte die meisten Leute nicht, weil sie beruhigten. Kritische Vernunft hatte da einen schweren Stand. Dem wissenschaftlich gebotenen Zweifel stand eine Moral entgegen, die ihre Autorität aus den Emotionen schöpfte. Der Andersdenkende wurde der Verantwortungslosigkeit bezichtigt, bedenklicherweise auch von Experten, die unter dem Eindruck ihres grossen Einflusses standen.
Was fast alle zu haben verneinten, weil sie im Gewand der Vernunft daherkam, blieb: Die Angst. Zusammen mit der Atemnot ist sie ein teuflisches Gespann. Wir wissen nicht, wie mancher Spitaleintritt, ja wie mancher schwere Verlauf dem emotionalen Pandemie-Management anzulasten sind. Die intellektuelle Redlichkeit würde es gebieten, kritisch über die Medizin nachzudenken, die in dieser Krise die Politik beschleunigte und umgekehrt, und dabei einige ihrer wichtigsten Prinzipien vergass: Der Angst mit Zuversicht und Hoffnung und mit tapferer Vernunft zu begegnen, Massnahmen dieser Grössenordnung auf ihre harte Evidenz hin zu befragen und stets redlich zu seinem Unwissen zu stehen. Auf Dauer entsteht so mehr Vertrauen. Bleibt zu hoffen, dass in der SÄZ die gebotene Kontroverse möglich sein wird.
Dr. med. Thomas Schweizer, Bern