Gebrechlich und faszinierend: Der menschliche Körper

Horizonte
Édition
2022/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20748
Bull Med Suisses. 2022;103(17):576-577

Affiliations
Junior-Redaktorin der Schweizerischen Ärztezeitung

Publié le 26.04.2022

Krankheit kennen wir alle. Als Betroffene, Angehörige oder aus dem beruflichen Alltag. Der Körper ist nicht immer gesund und kräftig. Manchmal ist er «gezeichnet», weicht von der Norm ab und muss behandelt werden. Eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich reflektiert die Entwicklungen in der Medizin seit dem Mittelalter und fragt danach, ob körperliche Normalität als Konzept überhaupt noch zeitgemäss ist.
Bereits beim Eintreten fesselt ein nackter, sich vom Boden abstemmender Unterkörper den Blick. Reduziert auf beschriftete Büsten und anatomische Lehrmodelle oder gebannt auf ein Poster und gleichgesetzt mit industriellen Produktionsabläufen – so findet sich der mensch­liche Körper in der Ausstellung «Take Care: Kunst und Medizin» wieder. Die rund 300 Exponate faszinieren, ekeln an oder machen perplex. Emotionen, die Krankheit und Körperlichkeit immer wieder hervorrufen. Doch nicht nur der Körper, sondern auch die Ideen und Theorien, die über die Jahrhunderte mit ihm verbunden wurden, stehen im Vordergrund der Ausstellung im Kunsthaus Zürich, die am 8. April eröffnet wurde.
Duane Hanson, Medical Doctor, 1992–1994 (Foto: Robert McKeever, © 2022, ProLitteris, Zurich).

Von Durchbrüchen und Irrwegen

Die Kunstwerke reichen vom Mittelalter bis heute, von der Pest bis zur Coronapandemie. Sie geben Einblicke in die Medizingeschichte und zeichnen beispielsweise die grossen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, des «goldenen Zeitalters der Medizin», nach, als Wilhelm Conrad Röntgen die Röntgenstrahlen entdeckte oder sich die vom ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis propagierten Hygieneregeln verbreiteten. Gleichzeitig erinnert eine Studienbüste mit den Einteilungen der phrenologischen Schädellehre nach Carl Huter an die Irrwege, die die Medizin immer wieder beschritten hat. Dabei wirkt dieser Blick in die Geschichte nie ausufernd oder langweilig. Das liegt auch daran, dass sich Zeichnungen, Gemälde und Skulpturen ebenso wie Video, Rauminstallation und Performance-Stücke abwechseln.
Die Ausstellung ist nicht streng chronologisch aufgebaut, obwohl im Eingangsbereich prominent eine Büste von Hippokrates steht und so daran erinnert wird, wie weit die westliche Beschäftigung mit dem Körper und die Deutung von Krankheit und ebenso die Behandlung der Kranken zurückreichen. Stattdessen bewegt sie sich anhand von sechs «Kapiteln» assoziativ durch die Jahrhunderte. Nach dem Streifzug durch die Medizingeschichte werden im Kapitel «Seuchen und Pandemien» der Kampf gegen Aids in den 1980er Jahren ebenso wie die aktuelle Pandemiesituation thematisiert.

«Der Arzt» im Blick

Im Themenbereich «Der diagnostische Blick und das System Spital» geraten diejenigen in den Fokus, die sich um die gebrechlichen Körper kümmern: die Ärzteschaft und die Pflegenden. Versinnbildlicht wird das im Werk «Medical Doctor» von Duane Hanson, einer täuschend echt wirkenden Figur, die einen aufmerksam zuhörenden Arzt darstellt. Beim Gang durch die Ausstellung fällt immer wieder auf, dass es eine Person gibt, die anders dargestellt wird: mit ganzem Körper und voll bekleidet. Am deutlichsten tritt das vermutlich in einem Werk von Georges Chicotot hervor, in dem ein Arzt neben einer Krebspatientin mit entblösster Brust steht. Was voyeuristisch klingen mag, stellt einen der ersten Versuche der Krebsbehandlung mittels Bestrahlung dar. «Der Arzt» forscht, analysiert und kategorisiert, ist Wissensvermittler und Ratgeber.
Georges Chicotot, Premiers essais du traitement du cancer par rayons X, 1908 (Foto: AP-HP/musée – F. Marin).

Schmerz berührt

Auch der Pharmaindustrie wird ein Kapitel gewidmet, wobei es bei der «Medikation und Spitzenforschung» nicht nur um die Suche nach dem Medikament gegen alles oder den spezifischen Pharmastil in der Werbung geht. Auch der heimische Arzneischrank wird zum Kunstwerk, in dem abgelaufene Medikamente neben Restbeständen von verschriebenen Medikamenten und vor allem verschiedensten Schmerzmitteln auf­gereiht sind. Auf dem Schild daneben wird denn auch erklärt: «Interessanterweise identifiziert man sich […] stark mit den Medikamenten und fühlt sich emotional angesprochen, denn wie kein anderes Gefühl ist Schmerz von individueller Natur.»

Selbst betroffen sein

In der zweiten Hälfte der Ausstellung rücken die Betroffenen stärker in den Mittelpunkt. Es sind Künstler wie Paul Klee, der an der Hautkrankheit Sklerodermie litt und sich dadurch inspirieren liess. Oder es geht um das Mitleiden von Angehörigen, das sich ergreifend in Zeichnungen von Ferdinand ­Hodler zeigt, mit denen er die fortschreitende Krebs­erkrankung seiner Geliebten, Valentine Godé-Darel, festhielt.
Im letzten Kapitel «Betroffene am Scheideweg vom genormten zum singulären Körper» werden vor allem Werke von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt, die sich mit ihrer Erkrankung auseinandersetzen. Wer krank ist, ist «anders». Das kann hilflos machen, die Abhängigkeit von der Medizin und den medizinischen Fachpersonen wächst. Die betroffenen Künstlerinnen und Künstler begegnen diesem Zustand mit humorvoller Kritik. Sie hinterfragen, ob Kranksein wirklich immer auch An­derssein bedeuten muss. Darauf verweist ­unter anderem der pointierte Titel «Shopping with family» eines Videos, in dem die Protagonistin nach dem therapiebedingten Haarausfall verschiedene Perücken anprobiert.
Die Ausstellung im Kunsthaus zeigt, wie bedeutungsvoll der menschliche Körper ist. Er fasziniert, inspiriert und limitiert. Seine Gebrechlichkeit macht verletzlich und ist her­ausfordernd. Nicht zuletzt zeigt der Gang durch die sechs Themenbereiche, dass die me­dizinischen Gerätschaften und Techniken, die wir zur ­Erhaltung der Gesundheit einsetzen, eine ganz ­ei­gentümliche Ästhetik haben und den Blick ebenfalls fesseln.
Christoph Hänsli, Die Festung 4, 2017 (© 2022, ProLitteris, Zurich).
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