Ethik statt Verordnung: Neue Ansätze für die Qualitätssicherung

Tribüne
Édition
2022/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20672
Bull Med Suisses. 2022;103(23):783-785

Affiliations
Dr. med., Gesundheitspunkt Oberägeri

Publié le 07.06.2022

Steigende Gesundheitskosten machen der Schweiz nach wie vor zu schaffen. Es kommt zu Spannungen zwischen Kosteneffizienz und Qualität. Statt staatlicher ­Regulationen brauchen Gesundheitseinrichtungen ein stabiles ethisches Fundament, um eine hohe Qualität garantieren zu können und ihrer sozialen Verantwortung ­gerecht zu werden.
Die Schweiz hat eigentlich ein gut aufgestelltes Gesundheitssystem, das «sozial» durch obligatorische Ver­sicherungsprämien finanziert, jedoch betriebswirtschaftlich durch die im Gesundheitsbereich tätigen Organisationen umgesetzt wird. Das System gilt als das beste der Welt, aber auch als teuer. Seit 2015 sind die Kosten um rund ein Viertel gestiegen und machten 2019 11,3% vom Bruttosozialprodukt des Landes aus. Das ist gefährlich, denn so wichtig die Gesundheit auch ist, sie bleibt nur eines von vielen wertvollen sozialen Zielen, die finanziert werden müssen. Niemand wird also bestreiten können, dass Haushalten angesagt ist.
Die Leistungsträger haben sich mit staatlich regulatorischer Hilfe und mit der notwendigen Pressebegleitung zuerst des Themas angenommen. Das Resultat nach Jahren ist uns allen bekannt: Die Prämienzahler zahlen mehr Prämien, die Leistungserbringerseite steht als «geldgierig» am Pranger, und die Entwicklung unseres Gesundheitswesens in eine patientenzentrierte, integrierte, kosteneffiziente Richtung ist nahezu zum Stillstand gekommen. Daran ändert auch die Beliebtheit der Hausarztmodelle nichts, ­welche ja gerne als Sparerfolg der Kassen verkauft werden.

Kosten als ethisches Problem

Was ist schiefgelaufen? Der US-amerikanische Ökonom Lester Thurow bemerkte schon vor 40 Jahren: «Die Kosten des Gesundheitswesens werden so behandelt, als seien sie hauptsächlich ein wirtschaftliches Problem, aber das sind sie nicht. Um darauf eine Antwort zu finden, müssen sie als ein ethisches Problem behandelt werden» [1].
Hierzu muss die Schweiz jedoch einen Spagat zwischen den beiden Stärken ihres Gesundheitssystems hinbekommen: Soziale Finanzierung und privatwirtschaft­liche Umsetzung. Nicht nur die Leistungserbringer, sondern auch die Leistungsträger sind privatwirtschaftlich aufgestellt: Keine (Gewinn-)Marge – keine (Gesundheits-)Mission!
Abbildung 1: Sieben ethische Grundprinzipien für eine erfolgreiche Umsetzung des Quali­tätsartikels KVG 58 (adaptiert von BAG, Strategie zur Qualitätsentwicklung in der ­Krankenversicherung, www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/qualitaetsstrategie-krankenversicherung.html ).
Man kann nur Mittel, die man erwirtschaftet hat, in ein neues Angebot oder in eine neue Qualität stecken. Es ist somit wichtig, mit den ethischen Spannungen fertig zu werden, die durch die Berücksichtigung der Kosten und der Qualität der Gesundheitsversorgung entstehen. Dieser Wahrheit können sich weder Leistungsträger noch Leistungserbringer, noch der staat­liche Regulator entziehen. Natürlich könnte dieser Sachzwang aufgehoben werden. Aber allen, die mit «Staatsmedizin» liebäugeln, sei in Erinnerung gerufen, dass diese in unserem Land mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehrheitsfähig ist.
Wenn wir es also als unsere Aufgabe betrachten sollen, die bestmögliche Gesundheitsversorgung im Rahmen begrenzter Ressourcen bereitzustellen, sind wir gezwungen, Themen wie etwa die Bestimmung von Nutzen und medizinischer Notwendigkeit, die Versorgung von chronisch Kranken, die Vertrauenswürdigkeit der im Gesundheitswesen tätigen Organisationen und die Mitsprache der Prämienzahler bei Entscheidungen im Gesundheitswesen als ethische Dilemmata zu betrachten (die sie tatsächlich sind).

Gesundheitspunkt Oberägeri

Der Gesundheitspunkt Oberägeri versteht sich als Turngerüst zur Erprobung moderner Konzepte der ­medizinischen Grundversorgung im praktischen Betrieb. Dieses Bemühen wird von Gemeinde und Kanton unterstützt und von drei Hochschulinstituten wissenschaftlich begleitet.

Aufgaben von Bund und Kantonen

Es ist nun nicht so, dass unsere Gesundheitspolitik ­solche oder ähnliche Überlegungen nicht angestellt hätte, basierend auf den Werten der Gesundheit für alle und der sozialen Gerechtigkeit:
Bund und Kantone legen ihren Fokus auf die Grundversorgung, welche «patientenzentriert», «interpro­fessionell» und «e-Health-basiert» werden soll. Als ­patientenzentrierte und integrierte neue Versorgungsmodelle werden das «Patientenzentrierte Medizinische Zuhause (PCMH)» und die «Gesundheitsregion» auf die Prioritätenliste gesetzt [2].
Als Anreiz sollen die Kantone «im Rahmen ihrer ­Zuständigkeit zur Sicherstellung der medizinischen ­Versorgung innovative Versorgungsmodelle mit Know-how und finanziellen Mitteln für die Startphase unterstützen (je nach dem in Zusammenarbeit mit Bund und Gemeinden)» [3].
Die Initiative dafür soll jedoch von den Leistungs­erbringern ausgehen: «Es liegt eigentlich auch klar auf der Hand, dass die Leistungserbringer die Feder­führung übernehmen sollten, weil letztlich der ‘Value’ dort entsteht, wo die Leistungen erbracht werden. Eine Entwicklung von innen her, das heisst über die Leistungserbringung, dürfte die grösste Akzeptanz finden. Eine Verordnung der Lösungsansätze ‘Top-down’ scheint nicht zielführend» [4].

Ethik als Fundament zu vage?

Solche Ansätze scheitern oft an der Überzeugung, dass Ethik als Grundlage zu vage ist, um konkrete Fortschritte zu erzielen. Warum sollte man harte Taktiken wie die gesetzliche Regulierung und Durchsetzung aufgeben, um sich einer reflektierten Methode zuzuwenden, die keine Zähne hat?
An diesem Punkt scheiden sich auch die Geister der beiden grossen Krankenkassenverbände: Der eine setzt auf Konsens, der andere – leider mit Schützenhilfe des Staates – auf Regulierung und Ausschluss (siehe die Vorgänge um den «Qualitätsartikel» 58 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung [KVG], den neuen TARMED und als neusten Streich das Unterschieben des e-Patientendossiers als Voraussetzung für eine ­Berufsausübungsbewilligung). Das Resultat? Stillstand und Vertrauensverlust aufseiten der Leistungs­­erbringer und der Prämienzahler. Das alte Dilemma: no Margin – no Mission!
Obwohl es immer wieder so hingestellt wird, muss dieses Dilemma keineswegs verwerflich sein. Eine Organisation, die ihren Auftrag klar versteht, die Konflikte zwischen den wichtigsten Werten identifiziert und ­bewältigt und die sicherstellt, dass sie im Einklang mit diesen Werten handelt, kann ein Beispiel für Organi­sationsethik sein, ohne das Wort Ethik für irgendeine ihrer Tätigkeiten zu verwenden.

Chance wahrnehmen

Und genau hier liegt die Chance für unser Gesundheitswesen. Wir haben nämlich auch in der Schweiz Leistungserbringer, die den Spagat zwischen sozialer Verantwortung und Gewinnorientierung jeden Tag zur Zufriedenheit ihrer Patientinnen und Patienten ­sowie der Kostenträger schaffen. Was Felix Huber mit seinen mediX-Praxen, Philippe Schaller mit seiner Cité générations, Michael Deppeler mit seiner Salutomed und andere an Mehrwert für die Patientinnen und ­Patienten und an Kosteneffizienz aufgebaut haben, ist beispielhaft.
Wir brauchen aktuell keine weiteren KVG-Artikel, sondern eine sorgfältige Analyse, was diese Unternehmen von anderen unterscheidet. Wir brauchen eine Klärung von Begriffen, eine Suche nach Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven, eine Abgrenzung von Werten, eine ausdrückliche Priorisierung von Werten und eine Erkundung möglicher neuer Lösungen. Das Resultat davon kann Entscheidungsträgern dabei helfen, ein reflektiertes Gleichgewicht zu erreichen.
Um den Qualitätsartikel 58 KVG vor dem Scheitern zu bewahren, müsste die Eidgenössische Qualitätskommission ihre Funktion als die einer Qualitätssammelstelle und Qualitätsvermittlerin und -entwicklerin wahrnehmen und nicht als die einer Polizistin, welche Qualitätsverträge (so es denn überhaupt zu solchen kommt) namens der Leistungsträger im Rahmen von «Vierjahresplänen» durchsetzt.
Das Wichtigste in Kürze
• Das Schweizer Gesundheitswesen ist teuer, eine Kostendeckung schwierig. Bei der Abwägung von Kosten und Qualität der Gesundheitsversorgung gibt es ethische Spannungen.
• Statt staatlicher Regulierungen fordert der Autor den Einbezug ethischer Reflexionen in die Unternehmensorganisation und -Zielsetzung, um die Qualität sicherzustellen.
• In der Schweiz gebe es bereits Beispiele von Leistungserbringern, die den Spagat zwischen sozialer Verantwortung und Gewinnorientierung erbringen würden. Diese sollten analysiert werden und von der Eidgenössischen Qualitätskommission in ihre Arbeit einbezogen werden.
L’essentiel en bref
• Le système de santé suisse est coûteux et une couverture des frais difficile. Des tensions d’ordre éthique surgissent lorsque l’on met en balance les coûts et la qualité des soins de santé.
• Plutôt que des réglementations étatiques, l’auteur demande d’intégrer des réflexions éthiques dans l’organisation et les objectifs de l’entreprise afin que la qualité soit garantie.
• En Suisse, il existe déjà des prestataires de soins qui font le grand écart entre responsabilité sociale et profit. Ces prestataires devraient faire l’objet d’une analyse et être impliqués dans le travail de la Commission fédérale de la qualité.
redaktion.saez[at]emh.ch
1 Thurow LD. Learning to say “no”. New England Journal of Medicine. 1987;311(24):1569–72.
3 GDK, BAG 2012: Neue Versorgungsmodelle für die medizinische Grundversorgung. Bericht der Arbeitsgruppe «Neue Versorgungsmodelle für die medizinische Grundversorgung» im Rahmen des Dialogs nationale Gesundheitspolitik. Bern, 2012. https://www.gdk-cds.ch/fileadmin/docs/public/gdk/dokumentation/berichte/Neue_Versorgungsmodelle_fuer_die_medizinische_Grundversorgung.pdf
4 Trageser J, Vettori A, Fliedner J, Iten R. Mehr Effizienz im Gesundheitswesen, ausgewählte Lösungsansätze, Schlussbericht Zürich, 19. Mai 2014. https://www.infras.ch/media/filer_public/b4/6c/b46cc0f1-33bf-4b5b-a59c-093a9f99d045/losungsansatze_effizienz_zusammenfassung_140519.pdf