Pandemie belastet Kinder und Jugendliche besonders

«Es reicht immer noch nicht»

Tribüne
Édition
2022/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20642
Bull Med Suisses. 2022;103(12):397-399

Affiliations
Junior-Redaktorin der Schweizerischen Ärztezeitung

Publié le 22.03.2022

Die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste in der Schweiz laufen am Anschlag. Durch die Pandemie hat sich das psychische Wohlbefinden der jüngeren Generation stark verschlechtert. Buben und Mädchen leiden nicht nur an den reduzierten Freizeitmöglichkeiten und fehlenden Zukunftsaussichten, sondern auch an der Überforderung der Erwachsenen.
Zwei Jahre lang war die Corona-Pandemie das dominante Thema: in den Medien, am Arbeitsplatz, im Bekanntenkreis und in der Familie. Ihre Auswirkungen betreffen alle, aber sie treffen nicht alle gleich. Nicht nur dann, wenn es um eine Covid-19-Erkrankung geht, sondern auch dann, wenn es um den Umgang mit der «neuen Normalität» geht.
Schon früh wurden Studien zur psychischen Belastung durch die Pandemie durchgeführt. Dabei kam heraus, dass nicht die gesundheitlichen Risikogruppen − ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen − am meisten unter den coronabedingten Restriktionen des täglichen Lebens leiden. Stattdessen schlägt die Pandemie besonders den Kindern und Jugendlichen auf die Psyche [1]. In diesem Bereich sind sie es, die gemäss Bundesamt für Gesundheit als «Risikogruppe» gelten: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind «von den psychischen Folgen der Pandemie deutlich stärker betroffen als andere Altersgruppen» [2].

Tiefe Einschnitte ins soziale Leben

Einige von ihnen haben im Verlauf der Pandemie Angstzustände und depressive Symptome entwickelt bis hin zu suizidalen Gedanken. Pro Juventute hält fest, dass viele Jugendliche wahrnehmen, «dass sich ihre Lebensqualität und ihr Wohlbefinden stark vermindert» hätten [3].
Prof. Kerstin von Plessen, Leiterin des Departements für Psychiatrie und des Service universitaire de psy-
chiatrie de l’enfant et de l’adolescent (SUPEA) am CHUV in Lausanne erklärt: «Jugendliche konstruieren ihre Identität über den sozialen Kontakt. Deshalb sind sie stark abhängig vom sozialen Feedback von Gleichaltrigen und Erwachsenen.» Durch die Restriktionen sei dieser Austausch reduziert worden oder gar weggefallen. Ein schmerzhafter Einschnitt im Leben junger Menschen. Hinzu komme die Unsicherheit über Ausbildungs-, aber auch Reisemöglichkeiten, die in dieser Lebensphase, die geprägt ist von Projekten und einer Zukunftsperspektive , sehr wichtig seien.
Es zeichnet sich ausserdem ein geschlechterspezifischer Unterschied ab. Laut Pro Juventute nehmen vor allem Mädchen zunehmend Hilfe in Anspruch. Sie reagieren sensibel auf die Belastungen durch die Pandemie und fühlen sich gestresst [3]. Doch auch unabhängig vom Geschlecht setzten die Isolation zu Hause und der Wegfall von Sportkursen und anderen sozialen ­Interaktionen den jungen Menschen zu. ­Gerade bei Kindern könne sich das in einem gesteigerten aggressiven Verhalten zeigen, erklärt Kerstin von ­Plessen.
Sie beobachte zudem eine Zunahme von schweren Essstörungen. Auch dies hänge mit der fehlenden Bewegung zusammen, da sich Essstörungen oft nach einer Phase einstellen würden, in der eine Person aus verschiedenen Gründen zugenommen hat.
Ebenfalls schädlich wirkt sich aus, dass die Pandemie den ohnehin schon steigenden Medienkonsum noch weiter gefördert hat. Die Kinder und Jugendlichen verbringen immer mehr Zeit im Internet. Das kann nicht nur zu einer pathologischen Mediennutzung führen, die jungen Menschen sind damit auch vermehrt Gefahren im Netz ausgesetzt, was sich laut Pro Juventute an der Zunahme gemeldeter Belästigungen zeigt [3].
Keine einfache Situation, was auch daran zu erkennen ist, dass es zu einer steigenden Anzahl von Anfragen bei Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten ­gekommen ist. Das wiederum verstärkt den bereits ­bestehenden Versorgungsengpass in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Mädchen nehmen in der Pandemie häufiger als Knaben Hilfe in Anspruch (© Zika Radosavljevic / Unsplash).

Kapazitäten wurden ausgebaut

So haben bei der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) der Universität Zürich die Anfragen im Vergleich zu 2019 um über 50 % zugenommen. Die Klinik sei immer voll ausgelastet, sagt Prof. Susanne Walitza, Leiterin des KJPP. Dies obwohl die Klinik ihre Kapazitäten seit Pandemiebeginn ausgebaut hat: Der Notfall und die Ambulatorien wurden aufgerüstet und die Zusammenarbeit mit der Erwachsenenpsychiatrie vertieft. Diese musste vermehrt Jugendliche aufnehmen, weil keine Betten mehr frei ­waren. Im Sommer soll zudem eine neue Kriseninterventionseinheit eröffnet werden. Noch konnten alle neu geschaffenen Stellen besetzt werden, doch bald dürfte auch der Personalmangel im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychologie das Pro-
blem verstärken, vermutet Susanne Walitza.
Auch an der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lausanne wurde ausgebaut. Wie Kerstin von Plessen erklärt, konnte das Supea im Dezember eine Krisen­station mit fünf Betten einweihen, und ein zu Beginn der Pandemie ad hoc geschaffenes Tageszentrum für ­Jugendliche in Krisen hat auch nach zwei Jahren noch Bestand. Zudem wurde auch hier die Zusammenarbeit mit Pädiatrie und Erwachsenenpsychiatrie noch enger gestaltet, um den Bedarf an Spitalaufenthalten abzu­decken.
In Lausanne waren viele Projekte bereits vor der Pandemie in Planung. «Es entwickelte sich viel im richtigen Moment», sagt von Plessen. Mithilfe der Sofortmassnahmen des Kantons konnte darüber hinaus in die ambulante Betreuung investiert werden, um ­­die Zahl der stationären Aufnahmen möglichst tief zu halten.
Dennoch sind die Wartezeiten lang – oder wie Susanne Walitza es formuliert: «Es reicht immer noch nicht.» Handelt es sich nicht um einen Notfall, kann es mehrere Monate dauern, bis ein Kind, eine Jugendliche oder ein Jugendlicher eine Behandlung erhält. Und das ist nicht nur in Zürich so. Wie das Team von Walitza in einer vor Kurzem veröffentlichte, schweizweiten Umfrage bei Fachpersonen aus der Kinder und Jugendpsychiatrie und -psychologie festgestellt hat, sind die Wartezeiten überall erheblich gestiegen [4]. Dabei falle es niemandem leicht, die jungen Patientinnen und Patienten warten zu lassen, sagt Walitza.

Ressourcen am richtigen Ort einsetzen

Häufig sind es Kinder- und Hausärztinnen und -ärzte, die bemerken, dass junge Menschen Hilfe benötigten und eine Überweisung an die psychiatrischen Dienste empfehlen. Ihnen komme bei der Früherkennung «mit die wichtigste Rolle» zu, erklärt Susanne Walitza. Die ärztlichen Überweisungen seien denn auch durchweg berechtigt. Doch ist Walitza überzeugt, dass im Rahmen der Prävention und Intervention noch stärker bei den Schulen investiert werden müsste, um problematische Fälle früh zu erkennen und aufzufangen.
In den Schulen könnte auffälliges Verhalten schnell ­registriert und auf Betroffene zugegangen werden, ­deshalb bräuchte es dort mehr Angebote und Ansprechpersonen. Wenn die Schulen Freizeit- und ­Nachhilfeangebote neben dem Unterricht anbieten könnten, an denen Kinder niederschwellig teilnehmen könnten, würde das Kindern und ihren Familien eine wertvolle Entlastung bringen.
Denn die Pandemie hat auch gezeigt, dass die psychische Belastung unter anderem mit dem sozio-ökonomischen Status zusammenhängt [3]. Wie Susanne ­Walitza erklärt, war es während der Schulschliessungen für schlechter gestellte Familien schwieriger, mehr Zeit und finanzielle Mittel für ihre Kinder einzusetzen, sodass sich diese häufiger alleine fühlten. Kommt hinzu, dass die Eltern selbst unter den erschwerten Verhältnissen litten und die Kinder und Jugendlichen dies spürten. Hier würden zusätzliche Angebote helfen. Allerdings nur, wenn die Familien sie auch kennen. Walitza würde sich deshalb ein pro-aktiveres Vorgehen vonseiten der Schulen wünschen. «Viele Schule schreiben: Bei Fragen können Sie sich an uns wenden.» Dabei müsse man auf die Familien zugehen, um sie zu erreichen.
Noch etwas würde sich Walitza wünschen: Dass der Stress an den Schulen reduziert wird. Sie kritisiert, dass die schulischen Anforderungen und die Prüfungen nach einer ersten Phase, in der beispielsweise die Notengebung ausgesetzt wurde, nicht mehr ausreichend der Situation angepasst wurden: «Die Schülerinnen und Schüler haben durch die Pandemie-Erfahrung bereits viel gelernt. Sie sollten jetzt nicht auch noch gleich viel Stoff wie bisher bewältigen müssen.»

Es gibt solche und solche Krisen

Bei der Frage nach den langfristigen Auswirkungen für die Kinder und Jugendlichen verweist auch Kerstin von Plessen auf den Lerneffekt der Krise: «Ich denke, dass die Kinder gelernt haben, mit Unsicherheit umzugehen. Und dass sie auch gelernt haben, dass man zwar Pläne machen kann, aber dass man auch bereit sein muss, sie wieder umzustellen.»
Noch auf einen weiteren Punkt weist sie hin, der inmitten der schlechten Nachrichten nicht vergessen werden darf: «Gewisse psychische Krisen sind auch Teil ­einer normalen Entwicklung.» In solchen Fällen könne es helfen, wenn die Betroffenen nicht gleich in die Warteschlaufe der psychiatrischen und psychologischen Dienste kämen, sondern wenn sie von ihrem Umfeld gezielt Unterstützung erhalten würden, die ihnen vermittelt: «Gemeinsam schaffen wir das.» Deshalb gilt gerade für hausärztliche Fachpersonen sowie Pädiaterinnen und Pädiater − ebenso wie für das gesamte Umfeld der ­Kinder und Jugendlichen −, gut hinzuhören und immer ­wieder das Gespräch zu suchen, um möglichst früh zu erkennen, wo pathologisches Verhalten vorliegt und wo nicht.
redaktion.saez[at]emh.ch
1 Stocker D, et al. Der Einfluss der Covid-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz. Erster Teilbericht. Bern: Bundesamt für Gesundheit; 2020.
3 Pro Juventute Schweiz. Pro Juventute Corona-Report. ­Update ­November 2021.
4 Werling AM, Walitza S, Eliez S, Drechsler R. The Impact of the COVID-19 Pandemic on Mental Health Care of Children and Adolescents in Switzerland. Results of a Survey among Mental Health Care Professionals after One Year of COVID-19. International Journal of Environmental Research and Public Health. 2022; 19(6):3252. doi.org/10.3390/ijerph19063252