Augenverletzungen durch Gummischrot

Briefe / Mitteilungen
Édition
2022/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20611
Bull Med Suisses. 2022;103(10):312

Publié le 08.03.2022

Augenverletzungen durch Gummi­schrot

Augenverletzungen durch Gummischrot ­führen in der Schweiz immer wieder zu Schlagzeilen. Gummigeschosse sind weltweit umstritten. Das hierzulande verwendete Gummischrot weist eine beträchtliche Streuung auf, weshalb es nicht möglich ist, Augenverletzungen zuverlässig zu vermeiden. Zürcher Augenärzte wissen das seit den 80er Unruhen, wo es zu mehreren verletzungs­bedingten Erblindungen eines Auges kam. Sie gelangten nie an die Öffentlichkeit, nicht ­einmal in Form einer medizinischen Publikation: Betroffenen drohte der Verlust von Ruf und Stelle, und die damals massgeblichen ­Autoritäten in der Schweizer Augenheilkunde sprachen sich engagierten Praktikern gegenüber explizit gegen eine Veröffentlichung aus. Seither wurde es etwas ruhiger, aber alle paar Jahre tauchen Berichte über schwerste Augenverletzungen in den Medien auf. Die Dunkelziffer ist unbekannt.
Die AG Prävention der Swiss Academy of Ophthalmology (Daniel Mojon, Dietmar Thumm, AF) schrieb sämtliche 34 ophthalmologischen Weiterbildungskliniken der Kategorien A bis C an und fragte nach solchen Fällen aus den letzten zehn ­Jahren. Geantwortet hat etwa ein Drittel. Das Ergebnis war gleich null, selbst aus grossen Zentrumskliniken von Städten, wo über entsprechende Verletzungen berichtet worden war. Trotz Abklärungen bei Ethikkommission und Datenschutz kamen wir nicht weiter, auch nicht via eine Menschenrechtsorganisation mit Kontakten zu Betroffenen: augenauf. Immerhin berichtete deren Sprecher, die ­wenigsten Verletzten würden sich outen, da es sich vorwiegend um Leute aus dem Schwarzen Block oder um «erlebnisorientierte» Fussballfans handle. Nach ihrem (Un-)Wissen gebe es ungefähr einem Fall pro Jahr. Einen fanden wir schliesslich durch direkte Rückfrage bei einem Spitalarzt – nur hatte dieser Patient bei Eintritt das übliche Formular nicht unterzeichnet, das die Herausgabe seiner anonymisierten Daten gestattet hätte.
Leider scheinen sich in dieser Frage alle Beteiligten gegenseitig zu misstrauen. Im Hinblick auf die Tabus ums Thema plädieren wir für eine Meldepflicht für schwere Augenver­letzungen durch Gummischrot. Anders lässt sich die Frage nicht vernünftig erörtern, ­inwiefern eine Waffe zur Crowd Control taugt, mit deren – wohlgemerkt vorschriftsge­mässem und legalem – Einsatz man traumatische Bulbusverluste billigend in Kauf nimmt.
Nach unserer Umfrage wandte sich im Herbst 2021 ein Covid-Massnahmenskeptiker an die Medien, dessen Auge bei einer illegalen Demo in Bern verletzt worden war.
Unabhängig von unserer fachlichen Perspektive sind wir der Ansicht, dass eine Tabuisierung niemandem dient. Bekanntlich erleiden auch Polizisten im Einsatz Augenverletzungen. Von den deutschen Polizeigewerk­schaften spricht sich die grössere gegen die Verwendung von Gummigeschossen aus, die kleinere dafür. Wie sieht das in der Schweiz aus? Was macht es mit jemandem, wenn er weisungsgemäss aus zwanzig Metern auf die Füsse zielt und ein Auge trifft? Könnte ein ­ergebnisoffenes Gespräch über Alternativen nicht sogar zu einer Deeskalation beitragen?
Alle Literaturangaben in: Augenverletzungen durch Gummischrot 1980–2021: Wir brauchen Daten. Fierz A, ophta 1/2022, 32–33.