Erlebnisse während einer Bewusstlosigkeit

Horizonte
Édition
2022/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20600
Bull Med Suisses. 2022;103(14):494-495

Affiliations
Dr. med., Fachrzt für Allgemeine Medizin, Teufen AR

Publié le 06.04.2022

Als pensionierter Allgemeinpraktiker erlebte ich kürzlich einen Rollentausch zum Patienten. Für eine geplante endoskopische Bauchoperation wurde eine ca. ein­wöchige Hospitalisation veranschlagt. Effektiv dauerte der Spitalaufenthalt fünf Wochen mit anschliessender dreiwöchiger stationärer Reha.
Nach anfänglich gutem Verlauf war nach neun Tagen eine Zweitoperation notwendig, diesmal eine Laparotomie. Hauptgrund waren ein Bridenileus und Pro­bleme im Bereich der Erstoperation. Wegen einer re­trograden Amnesie weiss ich einzig etwas von erhöhten Entzündungszeichen im Blut. Symptome oder ärztliche Gespräche sind ausgeblendet, obwohl ich anderen Ärztinnen und Ärzten berichtet haben soll, dass nochmals operiert werden müsse.

Unerwartete Komplikation

Bei der zweiten Narkoseeinleitung fand eine Aspiration von Nahrungsresten statt, was zu einem ARDS und konsekutiver Aspirationspneumonie führte, die eine vierzehntägige maschinelle Beatmung notwendig machten. Pleura- und Abdominaldrainagen, arterielle und zentrale Zugänge, diverse Infusionen und ein Blasenkatheter – also das Vollprogramm – waren auch nach dem Aufwachen noch in Aktion.

Auf der Intensivpflegestation

Während der Bewusstlosigkeit fantasierte bzw. hallu­zinierte ich zu mehreren Themen, die ich jeweils als Voyeur miterlebte. Beispiele sind:
– Ein spitalnahes Quartier war ein geheimdienstliches Zentrum. Die Häuser waren in herbstlichen Tarn­farben bemalt. Ein US-amerikanischer Transporthelikopter mit einem wespenkopfartigen Cockpit – er konnte als Aussenlast einen Schiffs­container tragen – war jeweils getarnt bei einem Bauernhaus stationiert. P.S. Die markanten Gebäude des Quartiers und das Bauernhaus gibt es real, allerdings ohne Tarn­farben. Den Helikopter sucht man vergebens.
– Als Beifahrer, gekleidet im Spitalhemd, durfte ich in ­einem geländegängigen Lastwagen, ausgebaut als medizinisches Notfallfahrzeug mit einem Behandlungs- und Operationsraum zu einem Grossunfall aus­fahren. Unwetter verursachten auf der Zürcher Forch-Autobahn Eisregen, viele umgestürzte Bäume und massenhaft Autokarambolagen. Rund herum blinkten Blaulicht-Fahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und Sanität. Herumliegende Bäume mussten weggeräumt werden. Das Dröhnen unzähliger Kettensägen von Feuerwehr und Forstdiensten produzierte eine imposante Lärmkulisse. Unfallopfer sah ich wenige. Erinnern kann ich mich an einen entkleideten Feuerwehrmann, offensichtlich mit Beckenfrakturen und an einen im Auto eingeklemmten, verstorbenen österreichischen Autolenker.
– Unsere Intensivpflegestation (IPS) war in einen ­Eisenbahnzug eingebaut mit Kojen, eine hinter der andern. Wir pendelten täglich zwischen dem Tessin und der Ostschweiz. Personalwechsel war jeweils im Tessin und es dauerte immer lange, bis der Zug um Mitternacht herum endlich zur Rückfahrt losfahren durfte.
– Einige Male erlitt ich (fantasierend oder echt?) heftige Drehschwindelattacken – wie eine Eiskunstläuferin in der Pirouette. Ich musste mich mit beiden Händen am Bettrand und an den herbeigeeilten Pflegefachpersonen festhalten.
– In einer Nacht wurden (fantasierend) auf der IPS drei Exit-Suizide durchgeführt. Anwesend waren Polizisten in Zivil und ein Staatsanwalt. Die Stimmung beim Pflegepersonal war sehr gedrückt.
– Wohl im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie sah ich in einem Städtchen des Mittellandes, nahe ­einer mittelalterlichen Bogenbrücke, Personen in schwarzen Pest-Schutzanzügen und Gesichtsmasken in Vogelschnabelform.

Endlich aufwachen

Beim Aufwachen aus der Bewusstlosigkeit realisierte ich, dass Nächte auf der IPS lang sind. Mein Zeitgefühl war verschoben und meist hatte ich um Mitternacht herum einen Aktivitätsdrang, dies zum Leidwesen des Pflegepersonals. Ich war auch überzeugt, dass die Wanduhr in der Nacht eine bis zwei Stunden angehalten wurde.
Nach dem Aufwachen musste ich fragend in Erfahrung bringen, was eigentlich vorgefallen war. Es brauchte mehrere Anläufe, bis ich die Zusammenhänge erfasste. Weihnachten und Neujahr 2021/22 existieren für mich nicht, die Zeitspanne ist vollständig ausradiert. Ich kann mich auch nachträglich nicht in diese Periode einfühlen.

Deutung der Fantasien

Während der Reha tauschte ich mich mit einem Psychologen aus. Ich selbst weiss keine Antwort darauf, was der Zweck des Erlebten sein könnte. Der Psychologe meinte, dass sich das Hirn mit den Fantasien aus mir grundsätzlich bekannten Gebieten möglicherweise eine Schutzwelt aufgebaut habe, in der ich mich einigermassen zurechtfinden konnte.
Es lässt sich unschwer vorstellen, dass unsere Familie und insbesondere meine Gattin eine schwere Zeit erlebten. Sie waren mehrfach bei mir, ich hatte jedoch nur für kurze Zeit Energie, um mich auf Besuche einzulassen. Mit 15 kg Gewichtsverlust und einem markanten Muskelschwund hat sich mein Äusseres verändert.
Heute, zweieinhalb Monate nach der Erstoperation, geht es uns allen deutlich besser. Weiterhin mit ambulanter Physiotherapie steigert sich die körperliche Fitness und das Essen beginnt, wieder Spass zu machen.
P.S. Es wäre noch interessant zu erfahren, ob beatmete Covid-Patienten und -Patientinnen auch Fantasien bzw. Halluzinationen erlebt haben und ob diese thematisch ebenso breit gefächert waren.
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