Kaum Widerstand der FMH gegen Beschneidung der Patientenrechte (mit Replik)

Briefe / Mitteilungen
Édition
2022/20
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20585
Bull Med Suisses. 2022;103(20):680-681

Publié le 17.05.2022

Kaum Widerstand der FMH gegen Beschneidung der Patientenrechte (mit Replik)

In Deutschland hat das Verfassungsgericht jüngst einen Entscheid gefällt, der das Arztgeheimnis stützt [1]: Die Ärztinnen und Ärzte müssen die Patientenakten auch für behörd­liche Kontrollen zum Betäubungsmittelverkehr nicht öffnen. In der Schweiz ist der Trend umgekehrt: Das Bundesgericht hat in einem Urteil vom März dieses Jahres die ärztliche Schweigepflicht stark aufgelockert (Urteil 2C_658/2018). Die FMH hat hierzu in dieser Zeitung zwei Artikel geschrieben («Wie reagiere ich auf Auskunftsbegehren der Aufsichtsbehörde?» und «Das Bundesgericht ­präzisiert die Rechtsprechung zum Arzt­geheimnis»). Das Problem dabei ist nicht so sehr, dass die FMH das Bundesgerichtsurteil akzeptiert – sie kann dagegen ja wenig tun – sondern, wie leicht sie dies getan hat. Damit wird den Patientinnen und Patienten das falsche Signal ausgesendet: Wir kämpfen nicht für eure Rechte. Auch stösst auf, dass sich die Behörden einerseits mehr Rechte verleihen, die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger zu kontrollieren. Andererseits werden aber behördliche Aufgaben an privatwirtschaftliche Organisationen übertragen, ohne dass die Behörden deren Arbeit kontrollieren, so etwa bei den Wirtschaftlichkeitsverfahren, wo BAG und EDI der Santésuisse blind vertrauen, obwohl seit Jahren berechtigte Zweifel an ihrer Methode und ihrem Vorgehen bestehen.
Der VEMS hat Prof. Dr. iur. Ueli Kieser gebeten, ein Rechtsgutachten [2] über oben genanntes Bundesgerichtsurteil zu erstellen. Prof. Kieser geht in seinem Gutachten folgenden drei Fragen nach: 1: «Ist das Urteil 2C_658/2018 mit der BV Art. 13 und EMRK Art. 8 vereinbar?» 2: «Ist die Begründungsgrundlage mit Art. 321 StGB vereinbar?» Und 3: «Ist es möglich oder wie wäre es allenfalls möglich, dass bei der bisherigen Begrenzung der Schweigepflicht gegenüber der Aufsichtsbehörde geblieben wird, wie sie bis dato festgeschrieben war?» Bei der Beantwortung von Frage eins, der Überprüfung der Verfassungsmässigkeit also, hält Prof. Kieser fest: «Es müssen stark überwiegende Interessen bestehen, damit das Privat- und Familienleben eingeschränkt wird.» Er kommt zum Schluss: «Die Würdigung des Bundesgerichts überzeugt nicht.» Bezüglich Begründungsgrundlage der Vereinbarkeit mit Art. 321 StGB hebt Prof. ­Kieser die Verhältnismässigkeit hervor und schliesst: «Insoweit darf das in Art. 321 StGB erfasste Berufsgeheimnis nur unter besonderen Voraussetzungen eingeschränkt werden.» Auch seine Beantwortung der dritten Frage ist eine kritische Würdigung: «Es sind also be­zogen auf die Einschränkungen des Berufs­geheimnisses bzw. der Schweigepflicht die Grenzen sorgfältig zu bestimmen und zu berücksichtigen.» Prof. Kieser stellt allerdings auch klar: «… die durch das Bundesrecht gesteckten Grenzen müssen beachtet werden.»
Wir haben also ein Bundesgerichtsurteil, das von einem ausgewiesenen Spezialisten des Schweizer Versicherungsrechts mit Fragen beurteilt wird, während der Zentralvorstand der FMH dieses frag- und widerstandslos akzeptiert. Die FMH hat hier eine Chance verpasst, sich und damit die gesamte Ärzteschaft durch ein engagiertes Eintreten für die Rechte und den Schutz der Patientinnen und Patienten kommunikativ zu profilieren. Die Folgen dieses fehlenden Engagements werden Ärztinnen und Ärzte in einer weiteren Belastung der ohnehin schwieriger gewordenen Arzt-Patienten-Beziehung zu spüren bekommen.

Replik auf «Kaum Widerstand der FMH gegen Beschneidung der Patientenrechte»

Wir erachten es als eine Aufgabe des Rechtsdienstes der FMH, unsere Mitglieder über ­Gesetzes- und Verordnungsänderungen auf Bundesebene sowie auch über Urteile des Bundesgerichts zu informieren, welche für die Ärzteschaft und ihren Praxisalltag von Interesse und Bedeutung sein könnten. Dazu gehörte auch die Information über das Bundesgerichtsurteil (2C_658/2018) zur ärztlichen Schweigepflicht.
Die Würdigung eines Bundesgerichtsurteils im Rahmen eines Rechtsgutachtens – wie in casu – erachten wir als einen wichtigen Beitrag zur Rechtsentwicklung. Auch die FMH beurteilt das Bundesgerichtsurteil als problematisch. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass es sich um ein letztinstanzliches Urteil handelt. Für die Ärzteschaft ist in diesem Kontext wichtig, darüber informiert zu werden.
Die FMH distanziert sich in aller Form von der Aussage, dass sie sich nicht dezidiert für den Schutz des Arztgeheimnisses engagiert und jede Verwässerung ablehnt. Ein entsprechendes juristisches Engagement ist indessen erst möglich, wenn ein konkreter Fall in Zukunft gerichtlich, und ebenfalls letztinstanzlich, entschieden wird. Selbstverständlich ist die FMH bereit, betroffene Mitglieder in einem solchen Verfahren zugunsten der Erhaltung eines stringenten Rechtsschutzes des Arztgeheimnisses zu begleiten.