Women’s Brain Project

«Alzheimer wird bei Frauen oft zu spät oder falsch diagnostiziert»

Tribüne
Édition
2022/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20529
Bull Med Suisses. 2022;103(09):293-295

Affiliations
Freie Journalistin BR, Olten

Publié le 01.03.2022

Alzheimer verläuft bei Frauen anders als bei Männern, sagt Ärztin Antonella Santuccione Chadha. Als Mitgründerin der Nichtregierungsorganisation Women’s Brain Project setzt sie sich dafür ein, dass geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Alzheimer und weiteren Krankheiten des Gehirns mehr Beachtung geschenkt wird.
Sie haben kürzlich ein Buch mit herausgegeben zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Alzheimer [1]. Warum ist es wichtig, bei Alzheimer auf diese Unterschiede zu fokussieren?
Erstens machen Frauen mehr als siebzig Prozent der Betroffenen aus. Zweitens schreitet die Krankheit bei Frauen schneller voran. Ausserdem haben Frauen auch spezi­fische Risikofaktoren.
Und die wären?
Wir wissen beispielsweise, dass die hormonellen Veränderungen in der Menopause das Alzheimerrisiko ­erhöhen. Ein weiterer Aspekt ist das Schlafverhalten.Ein spezifischer weiblicher Risikofaktor sind Schlaf­störungen, denn Frauen schlafen in der Regel viel schlechter als Männer, beispielsweise während Schwangerschaften, in der Stillzeit und wenn die Kinder noch klein sind. Auch in den Wechsel­jahren treten oft Schlafprobleme auf. Wir wissen, dass toxische Proteine, die sich im Gehirn anreichern, normalerweise während der Schlafphase abgebaut werden. Es könnte also sein, dass sie sich aufgrund des Schlafverhaltens im Gehirn von Frauen stärker anreichern. Wir wissen noch nicht genug, aber wir wissen, dass Schlaf sehr wichtig für unser Gehirn und für die Erholung ist und dass schlechter Schlaf das ­Risiko für viele Gehirn­erkrankungen erhöht, auch für Alzheimer.
Weshalb schreitet Alzheimer bei Frauen schneller voran als bei Männern?
Sehr vieles verstehen wir heute noch nicht, aber es gibt immer mehr Hinweise, dass die Krankheit bei Frauen anders verläuft als bei Männern. Das zeigt sich beispielsweise anhand der beiden Proteine Beta-Amyloid und Tau, die bei Alzheimer eine wichtige Rolle spielen. Im Verlauf der Krankheit reichert sich zunächst toxisches Beta-Amyloid zwischen den Gehirnzellen an. Danach kommt es im Innern der Gehirnzellen zur strukturellen Veränderung des Proteins Tau, das sich in Form von ­sogenannten Tau-Fibrillen anreichert. Diese Tau-Fibrillen sind ein Anzeiger dafür, dass Neuronen absterben.
Das Geschlecht sollte bei Studien zu Alzheimer unbedingt berücksichtigt werden, sagt Dr. Antonella Santuccione Chadha.
Studien haben gezeigt, dass Frauen im Vergleich zu Männern mehr Tau haben [2]: Beim gleichen Niveau von Amyloid-Plaques haben sie mehr Tau, ihr Gehirn ist dann also schon stärker abgebaut. Wie gesagt, vieles wissen wir noch nicht. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diese Prozesse bei Frauen besser studieren. Nur dann können wir Alzheimer bei Frauen gut behandeln und Medikamente entwickeln, die auch für sie gut wirken.
Bei der Entwicklung von Medikamenten wird aber vor allem mit männlichen Versuchstieren gearbeitet, weil diese keinen Zyklus haben.
Ja, in der präklinischen Forschung sind Versuchstiere meist männlich, manchmal auch gemischt. Oftmals wird das Geschlecht der Tiere in Publikationen nirgends erwähnt. Das ist ein grosses Problem, aber zum Glück findet langsam ein Umdenken statt.
Auch in den Phasen 1 und 2 klinischer Studien ist im Allgemeinen die Mehrheit der Versuchspersonen männlich. In Phase-3-Studien, in denen Medikamente vor der Zulassung an einer grösseren Gruppe von Pa­tientinnen und Patienten getestet werden, werden inzwischen mehr Frauen mit einbezogen, aber oftmals machen sie noch nicht die Hälfte der Versuchspersonen aus.
Und selbst das wäre nicht optimal. Bei chronischen, multifaktoriellen Erkrankungen, bei denen zwischen Frauen und Männern Unterschiede bestehen, sollten die Geschlechter eigentlich separat analysiert werden. Ist das nicht möglich, sollte in klinischen Studien zumindest berücksichtigt werden, wie häufig die beiden Geschlechter innerhalb der Bevölkerung tatsächlich von einer Krankheit betroffen sind. Bei Studien zu Alzheimer müssten Frauen also rund siebzig Prozent der Versuchspersonen ausmachen.

Zur Person

Dr. Antonella Santuccione Chadha studierte Medizin an der Universität von Chieti, Italien, und Neurowissenschaften am Zen­trum für Molekulare Neurobiologie Hamburg. Nach Stationen als Ärztin und Forscherin in der Demenz-Abteilung der Psychia­trischen Universitätsklinik Zürich, als Klinische Pathologin und Neurowissenschaftlerin an der Universität Zürich, als Forscherin im Bereich psychiatrische Erkrankungen und Alzheimer bei ­Roche und als Gutachterin beim Schweizerischen Heil­mittel­institut Swissmedic ist sie seit 2020 beim Biotechnologiekonzern Biogen als Leiterin Stakeholder Engagement für Alzheimer. 2016 rief sie gemeinsam mit Maria Teresa Ferretti und Annemarie Schumacher Dimech das Women’s Brain Project ins Leben – eine Gemeinnützige Organisation, die sich mit dem Einfluss von Geschlecht und Gender auf Gehirnerkrankungen befasst. Ziel ist die Gründung eines entsprechenden Forschungsinstituts.
Und wie ist es in der Realität?
Wir haben kürzlich 56 klinische Studien zu Alzheimer analysiert [3]. Von den insgesamt fast 40 000 Teil­nehmenden waren 59 Prozent Frauen. Nur sieben der untersuchten Studien haben über geschlechtsspezi­fische Ergebnisse berichtet. In den anderen war das Geschlecht schlichtweg kein Thema. Obschon immer deut­licher wird, dass die Krankheit bei Frauen und Männern ­anders verläuft. Das müssen wir ändern.
Wenn die Krankheit bei Frauen und Männern anders verläuft, sind denn auch die Symptome anders?
Ja. Frauen mit Alzheimer zeigen in einer frühen Phase oft Symptome einer Depression. Und dank guter sprachlicher Fähigkeiten können sie eine leichte kognitive Beeinträchtigung oftmals lange verschleiern, so dass selbst Angehörige das Gefühl haben, alles sei in Ordnung. So wird Alzheimer bei Frauen in vielen Fällen zu spät oder falsch diagnostiziert.
Wie kann das verhindert werden?
Ein erster wichtiger Schritt ist, dass Ärztinnen und Ärzte Frauen ernst nehmen und sich Zeit nehmen für eine gute Anamnese. Wenn eine Patientin mit sechzig plötzlich Symptome einer Depression zeigt, sollten sie immer auch fragen: Gibt es Fälle von Alzheimer in der ­Familie? Wie steht es mit Risikofaktoren wie Diabetes oder Bluthochdruck? Hat die Patientin Schlafprobleme? Wenn mehrere solcher Faktoren zusammenkommen, würde ich empfehlen, das weiter abklären zu lassen.
Wie das?
Indem man untersucht, ob sich in Gehirn oder Rückenmark Beta-Amyloid oder Tau nachweisen lässt. Dies kann entweder mit einer PET-Untersuchung oder einer Lumbalpunktion gemacht werden, was theoretisch in fast jedem Spital möglich ist. Das Problem ist: Der Nachweis von Alzheimer anhand solcher Biomarker ist noch kein Standardprozedere. Dabei könnte er helfen, die Krankheit in einem frühen Stadium zu erkennen, wenn erst leichte kognitive Beeinträchtigungen vorliegen.
Selbst wenn wir in naher Zukunft hoffentlich neue ­Medikamente haben werden, die die toxischen Proteine im Gehirn abbauen, wird man eine Behandlung früh beginnen müssen. Denn aus meiner klinischen Erfahrung als Pathologin und Forscherin weiss ich: Ein Gehirn mit fortgeschrittenem Alzheimer ist voller Löcher und fast zwei Mal kleiner als ein Normalgehirn. Neuronen, die zerstört sind, kann man nicht wiederherstellen. Daran werden auch neue Medikamente nichts ändern.
Die Behandlung muss also einsetzen, bevor das Gehirn zu stark geschädigt ist?
Ja. Alzheimer beginnt meist etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre, bevor die ersten Symptome auftreten. Zu einem frühen Zeitpunkt erkannt, können Patientinnen und Patienten auch noch etwas tun, um den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen. Ist die Krankheit schon fortgeschritten, fehlt ihnen das Bewusstsein dafür, dass sie krank sind. Man nennt dies Anosognosie. Das ist ein häufiges Symptom der Krankheit. Ich hatte selbst viele Erkrankte, die mir sagten: Ich brauche Sie nicht, Frau Doktor, wieso sind Sie hier? Gehen Sie weg. Viele werden auch aggressiv und wollen nicht, dass nun die Tochter oder eine unbekannte Ärztin plötzlich in ihr Leben eingreift. Das habe ich oft erlebt, als ich noch klinisch gearbeitet habe. Erkennt man die Krankheit früh, kann man die Betroffenen darüber auf­klären, was in Zukunft mit ihrem Gehirn passieren könnte und was sie selbst dagegen tun können.
Was genau können sie denn tun?
Eine grosse finnische Studie [4] konnte zeigen, dass körperliche Aktivität und Gedächtnistraining den Verlauf der Krankheit verlangsamen können. Es ist wichtig, dass wir unser Gehirn ständig trainieren, auch im Austausch mit anderen Menschen. Dass wir uns bewegen und Sport machen, auch im Alter, und auch immer ­wieder etwas Neues lernen, beispielsweise eine neue Sprache oder ein Musikinstrument. Und weil auch ein Hörverlust das ­Risiko für Alzheimer erhöht, sollte man einen solchen so schnell wie möglich mit einem ­Hör­gerät korrigieren.
redaktion.saez[at]emh.ch
1 Ferretti MT, Schumacher Dimech A, Santuccione Chadha A (eds.). Sex and Gender Differences in Alzheimer’s Disease. Elsevier: 2021.
2 Smith R, Strandberg O, Mattsson-Carlgren N, Leuzy A, Palmqvist S, et al. The accumulation rate of tau aggregates is higher in females and younger amyloid-positive subjects. Brain. 2020;143:3805–15.
3 Martinkova J, Quevenco FC, Karcher H, Ferrari A, Sandset EC, et al. Proportion of Women and Reporting of Outcomes by Sex in Clinical Trials for Alzheimer Disease. A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA. 2021;4.
4 Ngandu T, Jenni Lehtisalo J, Solomon A, Levälahti E, Ahtiluoto S, et al. A 2 year multidomain intervention of diet, exercise, cognitive training, and vascular risk monitoring versus control to prevent cognitive decline in at-risk elderly people (FINGER): a randomised controlled trial. The Lancet. 2015;385(9984):2255–63.