Wir sind Sternenstaub – was sonst?

Horizonte
Édition
2022/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20459
Bull Med Suisses. 2022;103(08):268

Affiliations
Prof. Dr. med., Mitglied IKRK, Senior-Botschafter und Neuroexperte, Kliniken Valens

Publié le 22.02.2022

Man sagt uns (und wir glauben’s), kurz (wenige Sekunden) nach dem Urknall (vor ca. 13,8 Milliarden Jahren) sei Wasserstoff (H) entstanden und Helium (He) als Rohmaterial für andere Elemente des Periodensystems. Prima! Sauerstoff (O), Natrium (Na), Fluor (F), Magnesium (Mg) und Neon (Ne) kommen aus Supernovas zu uns, während der Tod von weniger massereichen Sternen zu Kohlenstoff (C), Stickstoff (N), Lithium (Li) führt resp. sie bewirkt. Eisen (Fe), Chrom (Cr), Vanadium (V), Kupfer (Cu) und Zink (Zn) sind das Ergebnis der Explosionen von Weissen Zwergen, wohingegen Bismut (Bi), Polonium (Po), Radon (Rn), Francium (Fr), etwa die Hälfte von Ruthenium (Ru), Cadmium (Cd), Antimon (Sb), Tellur (Te), Tantal (Ta) und Wolfram (W) durch die Verschmelzung von sehr kompakten Neutronensternen entstehen, während das gesamte Bor (B), Beryllium (Be) und auch ein kleiner Teil des Lithiums (Li) durch kosmische Strahlung entstanden sind. So weit, so gut: Das ist die Alchemie unserer Atome, z.B. für mich als 70-Kilogramm-Mann 7 × 1027 Stück. Hab sie nicht gezählt, rechne aber mit ihnen, zähle auf sie und erzähle mit und von ihnen. Daraus also sind wir (wer ist das eigentlich?) gemacht und auf welche Art und Weise eigentlich genau? «It’s genetics, stupid!» Wirklich nur?
In meinem Alter von 70 Jahren habe ich 25 550 Tage, 613 200 Stunden, 36 792 000 Minuten erlebt. Mein Herz hat, bei einem durchschnittlichen Herz-Minuten-Volumen von 4,5 Litern pro Minute, 165 564 000 Liter Blut durch mich hindurchgepumpt, d.h., mein herziges Herzlein, dieser eine Muskel (von etwa 650 im ganzen Körper), hat so viel Blut gepumpt, dass ein Güterzug mit 1556 Güterwagen à 10 000 Liter Fassungsvermögen und 12,7 Metern Länge (über Puffer) die 216 Kilometer vom Hauptbahnhof Zürich bis Milano Centrale stehen (nicht fahren) würde!
Die im Inneren vielfach gewundene Röhre des Darmes, der mir auf einer Oberfläche von 30 bis 40 Quadrat­metern Kontakt mit der Umwelt ermöglicht, hat im Laufe meines Lebens etwa 30 Tonnen Nahrung und 50 000 Liter Flüssigkeit durchgearbeitet (inkl. zahl­loser Krankheitserreger und Giftstoffe), Brauchbares absorbiert und, bei einem Stuhlgang von 100 bis 200 Gramm pro Tag, 3,832 Tonnen Kot, Müll und sonstigen Abfall produziert und ausgeschieden.
Die eigenen Muskeln haben mich und mein Skelett in aufrechtem Gang bei durchschnittlich z.B. 6700 Schritten pro Tag mit 171 185 000 Schritten à 80 Zentimeter über 136 948 Kilometer weit geführt, um die Welt zu erkunden, also etwa 3,5 Mal um die Erde her­um.
Mit meiner Atemleistung bei einem Atemzugvolumen der Lunge von 500 Millilitern und 16 Atemzügen pro Minute, d.h. 23 040 Atemzügen, ziehe ich pro Tag 11 520 Liter ein und aus. Als Austauschfläche werden etwa 120 Quadratmeter errechnet, also etwa ein halber Tennisplatz im Inneren. Dies ermöglicht in meinem Alter 294 336 000 Liter luftigen Austausches mit der Umwelt, das sind 294 336 Kubikmeter, mit denen ich mit eigenem Atem 86,5 Heissluftballone à 3400 Kubikmeter füllen (und wohl auch weit fliegen!) könnte …
Bin seit 45 Jahren im Neurologischen tätig, habe also quasi mit dem Gehirn zu tun und wohl viele zehntausende Patientinnen und Patienten betreut und beraten, und dabei weiss ich nicht einmal, wie das primäre Aktionspotenzial entsteht, das ich (!) in Gang setze, das dann über einige der 86 Milliarden Nervenzellen mit unterschiedlichen, messbaren Nervenleitgeschwindigkeiten durch meinen Kopf huscht, Synapsen wohlgeordnet erregt, die sich zu tausenden aus diesen Neuronen ausstülpen und sich an diese anschliessen; weiss nicht einmal, wie und warum aus einem elektrischen Hirngewitter an bestimmten Orten (es geht um Lokalisation!) ein Bild entsteht, ein Klang, ein Gefühl, eine Bewegung (oder mehrere …). Was oder wer macht aus den Gelatinekugeln der Augen einen Blick? Einen Augenblick, der beglückt? Kann leider auch die Bedeutung von Träumen nicht immer deuten, verstehe nicht einmal, wie das Gedächtnis genau funktioniert, obwohl ich selber eines (oder mehrere?) habe.
Ich weiss: Wissen ist Macht, gewiss. Ich stelle mir mein Wissen als eine Kugel in einem Meer des Unwissens vor: freue mich, wenn sie sich durch Üben und Studien erweitert – dadurch vergrössert sich aber nur die Berührungsfläche mit dem Unbekannten. Aber Können ist mächtiger. Und Kunst kommt von Können. Wenn sie nur vom Wollen käme, müsste sie «Wulst» heissen.