Über die Angst vor Entscheidungen

Dr. Fifas Lebensängste

Horizonte
Édition
2022/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2022.20434
Bull Med Suisses. 2022;103(06):198-199

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Mitglied FMH

Publié le 08.02.2022

Dr. Fifa litt sein Leben lang gehörig unter seinem ­Namen. Das lag nicht am gleichlautenden, notorisch korrupten Fussballverband. Schuld war die norditalienische Umgangssprache, in der der Begriff «fifa» für eine – eher übertriebene – Vorsicht und Ängstlichkeit steht. Für Angsthasen eben.

Unverdienter Spott

So wurde denn der kleine Fifa im Kindesalter zum privilegierten Objekt beis­senden Spottes. Weichei, Warmduscher, Beckenrandschwimmer und Schattenparker: Die erbarmungslose Phantasie seiner Spielkameraden und Mitschülerinnen und Mitschüler kannte da keine Grenzen. Dabei war er eigentlich gar nicht furcht­samer als ­andere auch, fuhr Velo und Motorrad, wählte kaum die blauen Pisten und liess sich zur Sommerzeit im ­eiskalten Wasser des nahen Flusses treiben. Doch wenn es darum ging, persönliche Entscheidungen zu treffen, reagierte er anders als viele seiner Kommilitoninnen und Kommilitonen. Während diese instinktiv auf potenzielle Partner, Berufsoptionen und sonstige Lebensziele zugingen, befiel ihn in solchen Momenten regelmässig ein panisches Zögern. Ein hemmendes Schwindelgefühl angesichts der Vielfalt möglicher Alternativen.

Die Qual der Wahl

Nach Abschluss des Medizinstudiums machte Dr. Fifa den Versuch, das eigene Ungemach etwas näher zu bestimmen. Dabei half ihm eine typische Modeerscheinung der heutigen Zeit: die muntere Proliferation neu erfundener, schicker Diagnosen. So stiess denn der frischgebackene Fachmann bald einmal auf «Fobo» und meinte – fürs Erste jedenfalls –, die passende Etikette für sein Leiden gefunden zu haben. Das vom amerikanischen Buchautor Patrick McGinnis geprägte Kürzel steht für «Fear of better options» – für die Angst, aufgrund einer zu treffenden Wahl weitere Handlungs­optionen zu verpassen. McGinnis diagnostizierte damit eine aktuelle Krankheit der Überflussgesellschaft. Ein typisches Leiden unserer Welt der verwirrenden Möglichkeiten, das die Betroffenen schlussendlich in eine beklemmende Sackgasse führe: in eine entscheidungsmässige Paralyse angesichts der Überfülle von Optionen. «Fobo» stehe in enger Verbindung mit steigendem Wohlstand, da den weniger privilegierten Schichten die «Qual der Wahl» naturgemäss erspart bleibe.

Furcht versus Angst

Dr. Fifa konnte Patrick McGinnis in dieser Hinsicht nur zustimmen. Gleichzeitig spürte er aber, dass seine eigenen Probleme tiefer verwurzelt sein mussten und sich kaum in der psychologisch-soziolo­gischen Diagnose einer «Fear for better options» erschöpften. Um weitere Klarheit zu schaffen, ­erinnerte er sich an seinen Philosophieunterricht, wo er vom dänischen Sonderling Søren Kierke­gaard (1813–1855) gehört hatte. Dieser Denker gilt mit gutem Recht als Urvater des Existentialismus, ­einer geisteswissenschaftlichen Ausrichtung, die dann erst im letzten Jahrhundert mit Autoren wie Martin Heidegger (1889–1976) und Jean-Paul Sartre (1905–1980) so richtig Fuss fasste.
Während im hergebrachten philosophischen und religiösen Denken die menschliche Existenz in aller Regel auf einem definierten, geistig-materiellen Sockel steht, ist das bei Kierkegaard ganz anders. Er begreift nämlich unser Dasein als blosse Möglichkeit, die sich realisieren könnte oder eben auch nicht. Da gibt es für ihn nicht die geringste Sicherheit. So sieht er denn in jeglicher Option, die ihm das Leben bietet, auch keine Chance, sondern vielmehr eine Gefahr zu scheitern – ein beunruhigendes «Vielleicht», das ihn mit Angst ­erfüllt. Im Unterschied zur Furcht, die eine – manchmal auch übertriebene – «fifa» vor etwas Konkretem ist, versteht Kierkegaard die existentielle Angst ganz allgemein als negativ gefärbtes Verhältnis des Menschen zu seinem bedrohlich unbestimmten Umfeld. Als einen Zustand beklemmender Unsicherheit, den er mit dem Schwindel vergleicht, der uns am Rande eines felsigen Gipfels befällt. Der Blick ins Tal, auf eine nahe und zugleich ungreifbar ferne Welt, wird so zum Sinnbild denkbarer Daseinsperspektiven, die sich – aufgrund der trennenden Leere des Abgrundes – immer auch als nichtig erweisen können.

Drei Begriffe auf Arztbesuch

Die von Kierkegaard beschriebene Lebensangst ist ein ­typisches Problem des zur Reflexion befähigten Homo sapiens und kann somit zum medizinisch relevanten Thema werden. Nicht nur bei der Spezialistin oder dem Spezialisten für Angststörungen, sondern gerade auch in der Sprechstunde von Allgemeinpraktikerinnen und Allgemeinpraktikern. So möchte nun Dr. Fifa einige ganz persönliche Erfahrungen zu den Begriffen «Fobo», Furcht und Angst einbringen.
Patrick McGinnis’ «Fear of better options» dürfte beim kranken Menschen wohl kaum grössere Verwirrung stiften. Die beste Option bleibt hier eine schnelle Linderung oder Genesung. Da zählen ärztliche Kunst und persön­liches Vertrauen in die Fachfrau oder den Fachmann – ganz ohne «Qual der Wahl».
Im Gegensatz dazu ist die Furcht – als «fifa» vor etwas eindeutig Bestimmtem – schon eher im klinischen Alltag anzutreffen. Von Agoraphobie, der Furcht vor weiten Plätzen, bis zur Zoophobie, der Furcht vor Tieren: Die Liste bei Wikipedia ist lang – fast so aus­gedehnt wie die menschliche Phantasie. Absoluter Spitzenreiter der «kleinen Praxispsychiatrie» bleibt allerdings die blosse Angst, die unangemessene Reizbarkeit unseres natürlichen Alarmsystems mit ihren wohlbekannten Folgen: den rezidivierenden Panik­attacken und den chronifizierten Zwangsstörungen. Während die Ersteren ihre Opfer meist unverhofft und hinterhältig überfallen, zeigen Zwangskranke einen durchaus reflektierten, wenn auch negativ gefärbten Realitätsbezug. So ist denn das Putzen und das Kontrollieren keineswegs a priori unsinnig. Erst in einer Endlosschlaufe werden sie zur selbstquälerischen Falle, zur unruhig-ängstlichen Sucht, die das persön­liche Verhältnis zur Aussenwelt in erheblicher Weise verunsichert.
Da liessen sich durchaus Parallelen zu Kierkegaards existentieller Angst auffinden. Das war wenigstens die Ansicht von Dr. Fifa. Ob er mit Hilfe seiner Betrachtungen den Schlüssel zum Verständnis seiner Angst­patientinnen und Angstpatienten gefunden hatte, konnte aber niemand wissen – am allerwenigsten er selbst.
Jann P. Schwarzenbach
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