Interview mit Joel Forster, Chiropraktor, Oerlikon

In guten Händen

Horizonte
Édition
2021/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.20264
Bull Med Suisses. 2021;102(47):1588-1590

Affiliations
Texterin

Publié le 23.11.2021

In dieser Serie werden Medizinerinnen und Mediziner vorgestellt, die aussergewöhnliche Berufsrichtungen eingeschlagen haben. Im folgenden Interview berichtet Joel Forster über seinen Werdegang zum Chiropraktor – eine Ausbildung, die in der Schweiz erst seit 2008 existiert.

Zur Person

Name: Joel Forster
Alter: 32
Als Chiropraktor tätig seit:
2018
Als Hausarzt tätig seit:
2020
Ausbildung:
Master Humanmedizin,
Master in Chiropraktischer Medizin
Wie nehmen Sie jemandem in der chiropraktischen Behandlung die Angst vor dem «Knacks»?
In der Chiropraktischen Medizin geht es nicht primär ums «Knacken» (lacht). Im Vordergrund steht zuerst immer eine sorgfältige Anamnese, Untersuchung und – falls nötig – weitere Diagnostik. Wenn eine manuelle Behandlung indiziert ist, gibt es diverse Behandlungsmöglichkeiten. Die Impuls- oder Manipulationsbehandlung, welche häufig mit einem Kavitationsgeräusch einhergeht, wird sicherlich oft angewendet. Vor einer Impulsbehandlung erkläre ich immer, wie das Knacken zustande kommt, was den meisten Patientinnen und Patienten bereits die Angst nimmt: Durch die kurzzeitige Trennung der synovialen Gelenkflächen lösen sich Gasbläschen aus der Gelenkflüssigkeit, was ein schmerzfreier Vorgang ist. Zudem ist die chiropraktische Behandlung nachgewiesenermassen effektiv und risikoarm. Bei wissenschaftsaffinen Personen verweise ich manchmal auf Studien, welche die Behandlungssicherheit belegen. Wenn dann jemand immer noch lieber keine Impulsbehandlung möchte, so ist das überhaupt kein Problem. Zur Manipulations­behandlung gibt es meist gute Alternativen.
Chiropraktik ist also weit mehr als manuelle ­Therapie?
Für unsere Patientinnen und Patienten ist das Manuelle natürlich oft das Wesentliche. Für mich hingegen ist es nur ein kleiner Teil der Behandlung. Es ist entscheidend, nach der richtigen Diagnose gut aufzuklären und richtig zu beraten. Dies kann manchmal schon einen Grossteil der Symptome bessern. Sicher gibt es Beschwerden, wie ein akuter Hexenschuss oder eine Nackenstarre, bei denen eine manuelle Behandlung sehr effektiv ist, doch ich manipuliere längst nicht in jedem Fall. Wie in vielen anderen Fachrichtungen ­sehen wir in der Chiropraktik nicht immer nur «klassische» chiropraktische Fälle. Manchmal steckt eine rheumatologische Grunderkrankung hinter den Beschwerden, manchmal ein primär orthopädisches oder internistisches Problem. Deshalb ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit sehr wichtig. Aber auch psychosomatische Beschwerden sind nicht selten. Da hilft es, gut zuzuhören, den Menschen ins Zentrum zu stellen und praktische Tipps zu geben.
Eine Situation, die auch andere medizinische Disziplinen kennen. Was ist besonders an der Chiropraktik?
Die Berührung ist schon ein wichtiger Faktor. In der Hausarztpraxis wird bei diffusen Rückenschmerzen mit gezielten Fragen, manchmal auch mit ortho­pädischen oder neurologischen Untersuchungen und ­allenfalls weiterer Diagnostik eine gefährliche Ur­sache der Beschwerden ausgeschlossen, und häufig erfolgt eine Behandlung mit Analgetika und bzw. oder eine Überweisung zur Chiropraktik oder Physiotherapie. ­Einige Patientinnen und Patienten haben bis dahin dennoch das Gefühl, sie seien «gar nicht richtig untersucht worden». Wenn sie nun jemand auch dort berührt und genauer untersucht, wo es schmerzt, fühlen sie sich ernst genommen und in guten Händen. Dies allein kann schon viel Positives bewirken.
Wie kamen Sie dazu, einen in der Schweiz noch eher unbekannten Beruf wie die Chiropraktik zu ergreifen?
Ich habe die Wirkung der Chiropraktik schon in meiner Kindheit erlebt: Eines Morgens erwachte ich und konnte meinen Nacken nicht mehr bewegen – sehr unangenehm und schmerzhaft. Nach einer Behandlung beim Chiropraktor war ich schon fast wieder beschwerdefrei, was für mich damals ­einem kleinen Wunder gleichkam. Dann habe ich besonders als Jugendlicher sehr viel und auch kompetitiv getanzt und kam wegen Verletzungen noch das eine oder andere Mal in den ­Genuss einer chiropraktischen Behandlung. Bei der Berufswahl war klar für mich: Ich wollte mit Menschen arbeiten, ihnen helfen und gleichzeitig intellektuell gefordert sein. Zudem war es mir als körper­bewusster Bewegungsmensch wichtig, auch physisch zu arbeiten und meine Hände einzusetzen. Die Chiropraktik war der perfekte Mix, der all diesen Bedürfnissen und Erwartungen entsprach.
Joel Forster behandelt Gelenkstörungen mit dosierten, manuellen Impulsen; der dabei entstehende «Knacks» ist schmerzfrei.
Haben Sie in Ihrem Studium der Chiropraktischen Medizin alles erhalten, was Sie im Berufsleben benötigen?
Ja, das kann ich auf jeden Fall so sagen. Während dem Bachelor- und Masterstudium wird man von sehr kompetenten Dozierenden verschiedenster Fachrichtungen unterrichtet. Und gerade im Wahlstudienjahr, von dem man nebst der Unterassistenz in verschiedenen chiropraktikrelevanten Fachrichtungen auch die Hälfte in der Chiropraktischen Poliklinik an der Uni­versitätsklinik Balgrist verbringt, wird man sehr gut betreut. Als Student arbeitete ich dort unter der ­Super­vision von Fachchiropraktorinnen und Fach­chiropraktoren, die mir sämtliche Aspekte der Berufsausübung vermittelten. Das heisst, neben Anamnese, Diagnostik, Therapie und Management auch «mühsamere» Aspekte des Arbeitsalltags wie Berichte schreiben, Leistungen verrechnen, Rezepte oder Arbeits­unfähigkeitszeugnisse ausstellen. So ist man nach dem Staatsexamen sehr gut auf die darauffolgende Assistenzzeit und die reale Arbeitswelt vorbereitet.
Und doch haben Sie neben dem Chiropraktik-Studium noch den Medizinmaster abgeschlossen?
Während der ersten vier Jahre besucht man in der Chiropraktik zusammen mit allen anderen Medizin­studierenden dieselben Lehrveranstaltungen, ergänzt durch ein intensives Mantelstudium mit chiropraktischen Fächern. Für mich war schon bald klar, dass ich aufgrund der vielen spannenden Fachgebiete sowohl in Chiropraktik als auch in Medizin abschliessen wollte. So habe ich nach den ersten vier Jahren zuerst die letzten beiden Jahre Medizin und danach die beiden letzten Jahre Chiropraktik studiert und jeweils mit dem Staatsexamen abgeschlossen. Dies hat mir zum Beispiel ermöglicht, im vergangenen Jahr zu 50% in ­einer Hausarztpraxis als Assistenzarzt und daneben weiter als Chiropraktor in einer Chiropraktik-Gemeinschaftspraxis zu arbeiten. Welchen Berufsweg ich langfristig einschlagen werde, ist für mich momentan noch offen. Was ich mir aber sicher wünsche, ist die ­Tätigkeit in einer Gemeinschaftspraxis, wo der fach­liche Austausch auch auf unkomplizierte Weise in der Kaffeepause stattfinden kann.
Was sind für Sie besonders positive Momente Ihrer chiropraktischen Tätigkeit?
Sehr zufriedenstellend sind natürlich hoch akute Fälle, bei denen jemand schmerzgeplagt in der Praxis erscheint und sich direkt nach der Behandlung «wie neugeboren» fühlt. Aber auch bei chronischen Beschwerden sind teilweise erstaunliche Besserungen möglich, und ich erfahre viel Dankbarkeit vonseiten der Patientinnen und Patienten. Gerade bei chronischen Problemen ist eine komplette Beschwerdefreiheit nicht ­immer zu erreichen und wird meistens auch nicht erwartet. Aber auch wenn eine Patientin nach langem ihren Enkel wieder zum ersten Mal hochheben und herumtragen kann, wenn jemand die Analgetika absetzen oder ein geliebtes Hobby wieder aufgreifen kann, trotz weiterhin bestehender leichter Schmerzen, so macht dies meist eine riesige Verbesserung der Lebensqualität für die Betroffenen aus. Solche Rückmeldungen zu bekommen bedeutet mir viel.
Welchen Herausforderungen begegnen Sie im Berufsalltag als Chiropraktor?
Es gibt in der Schweiz aktuell zu wenige Chiropraktik-Fachleute für die Anzahl Personen, welche chiropraktisch behandelt werden sollten. Somit gibt es viel zu tun, und das Zeitmanagement ist nicht immer ganz einfach. Um möglichst alle betreuen zu können, wird die geplante Behandlungszeit bei bereits bekannten Patientinnen und Patienten eher kurz gewählt. Wenn nun aber bei diesen plötzlich ein völlig neues Problem auftritt, beispielsweise ein Unfall mit Untersuchungsbefunden, welche sofort ein Röntgenbild erfordern, so kann dies zu Wartezeiten führen. Natürlich gibt es in vielen Arztpraxen manchmal unerwartete Verzögerungen, aber dort scheint das Verständnis erfahrungsgemäss grösser zu sein.
Chiropraktik ist gefragt, denn immer mehr Menschen leiden an Beschwerden des Bewegungsapparates. 
Hat die Chiropraktik denn hierzulande ein Image­problem?
Es gibt gerade auch bei der älteren Ärzteschaft Kolleginnen und Kollegen, welche über den Beruf und die Ausbildung der Chiropraktischen Medizin zu wenig Bescheid wissen und manchmal unbegründete Vorurteile haben. Auch in den Apotheken ist bisweilen nicht bekannt, dass Chiropraktorinnen und Chiropraktoren beispielsweise Analgetika verschreiben dürfen, was schon zu ärgerlichen Situationen geführt hat. Dass chiropraktische Leistungen in der Schweiz von der obligatorischen Grundversicherung der Krankenkassen, der Unfall-, Militär- und Invalidenversicherung übernommen werden, ist ebenfalls vielen nicht bewusst. Man kennt unseren Beruf in der Schweiz leider einfach noch zu wenig – Chiropraktik wurde hier erst 1964 offiziell anerkannt. Vor der Gründung der Ausbildungsstätte für Chiropraktische Medizin 2008 in Zürich musste man fürs Studium ins Ausland ziehen, deshalb liessen sich damals die meisten in den USA oder in ­Kanada ausbilden. Heute haben wir in der Schweiz eine der besten Chiropraktik-Ausbildungen weltweit, worauf wir stolz sein können.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Chiro­praktik in der Schweiz?
Dass mehr Chiropraktorinnen und Chiropraktoren in der Schweiz ausgebildet und Chiropraktik-Studiengänge auch in anderen Landesregionen aufgebaut werden. Seit kurzem kann man das Wahlstudienjahr nicht nur an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich, sondern auch am Lausanner Universitätsspital Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) absolvieren. Es geht in die richtige Richtung! Zudem wünsche ich mir mehr Aufklärung über die Ausbildung und Kompetenzen der chiropraktisch tätigen Fachleute.

Das Studium der Chiropraktik

Die medizinische Fakultät der Universität Zürich bietet seit 2008 das Studium der Chiropraktischen Medizin an. Während der ersten vier Jahre ist dieses mit jenem der Humanmedizin identisch. Jedoch wird zusätzlich das Mantelstudium Chiropraktik besucht, wo unter anderem manuelle Fertigkeiten, Biomechanik des Bewegungsapparates und Radiologie unterrichtet werden. Ab dem fünften Studienjahr ist das Studium auf den Bewegungsapparat fokussiert. Die Hälfte des Wahlstudienjahres verbringen die Studierenden an einer Poliklinik für Chiropraktische Medizin in der Universitätsklinik Balgrist oder am Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV). Auf die eidgenössische Prüfung der Chiropraktik folgen drei Jahre ­Assistenzzeit bei Fachchiropraktorinnen oder Fachchiropraktoren, wobei mindestens vier ­Monate Unterassistenz in Rheumatologie oder Orthopädie und berufsbegleitende Weiterbildungen an der Swiss Chiropractic Academy in Bern erforderlich sind.
Danach kann die eidgenössische Fachchiropraktikprüfung absolviert werden, die zur selbständigen Berufsausübung berechtigt. Weitere Informationen: www.chirosuisse.ch
Haben Sie als Mediziner auch einen aussergewöhnlichen Beruf, den Sie unserer Leserschaft gern vorstellen möchten? Dann freuen wir uns auf Ihr E-Mail an: redaktion.saez[at]emh.ch
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