Zum 140. Geburtstag des Physiologen und Nobelpreisträgers Walter Rudolf Hess

Über die deutsche Sprache in Medizin und Physiologie

Horizonte
Édition
2021/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.20172
Bull Med Suisses. 2021;102(42):1385-1387

Affiliations
Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medizingeschichte, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich

Publié le 19.10.2021

Der Zürcher Physiologe Walter Rudolf Hess (1881–1973) wurde vor 140 Jahren geboren. Er stammte aus einer Zeit, in der die deutschsprachige Medizin und Physiologie international führend waren und die Wissenschaft viele Sprachen kannte. Während seiner ­Lebenszeit wurde Englisch allerdings zur Standardsprache. Dabei wäre der verlorengegangenen Mehrsprachigkeit gerade heute viel abzugewinnen.
Am 17. März 1881 kam Walter Rudolf Hess in Frauenfeld zur Welt. Nach der Kantonsschule studierte Hess in der Schweiz und in Deutschland Medizin, arbeitete zeitweise in Frankreich und war ab 1912 Assistent des Physiologen Justus Gaule an der Universität Zürich. 1917 wurde er als Nachfolger Gaules Inhaber des Lehrstuhls für Physiologie [1]. Das akademische Jahr 1915/1916 verbrachte er im Rahmen eines Forschungsaufenthalts beim Physiologen Max Verworn in Bonn.

Deutsch als lingua franca der Medizin und Physiologie

Eine Genealogie der akademischen Lehrer von Hess ­ergibt ein Abbild der im 19. Jahrhundert führenden deutschsprachigen Medizin und Physiologie: Carl Ludwig (Gaule hatte sich 1878 bei Ludwig in Leipzig ­habilitiert), Emil Du Bois-Reymond, Rudolf Virchow, Ernst Haeckel (Verworn hatte bei diesen Wissenschaftlern in Berlin und Jena studiert). Bis ins 20. Jahrhundert behielt das Deutsche in den lebenswissenschaftlichen Disziplinen seine zentrale Position als Wissenschaftssprache. So verfasste beispielsweise der sowjetische Physiologe und Nobelpreisträger Ivan Pawlow seine Briefe an den US-Amerikanischen Harvard-Physiologen Walter Bradford Cannon auf Deutsch. Am 13. internationalen Physiologenkongress in Boston im Jahr 1929, dem ersten in den USA, sprach Pawlow auf Deutsch, das damals noch eine Art lingua franca der Wissenschaften war. Mit grosser Selbstverständlichkeit partizipierten auch die US-amerikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in anderssprachigen Forschungskontexten, ganz im Zeichen ­eines wissenschaftlichen Internationalismus.

Englisch als neue Standardsprache

Hess konnte die schweizerischen Landessprachen einigermassen sprechen, doch wie Pawlow tat er sich mit dem Englischen zeitlebens schwer, wenigstens im mündlichen und schriftlichen Ausdruck. Bis in die 1930er-Jahre hinein war dieser Umstand kein Problem, zumal sich sein wissenschaftliches Netzwerk fast ausschliesslich auf die europäischen Länder beschränkte. Als allerdings in den späten 1930ern einige US-amerikanische Physiologen die Arbeiten von Hess harsch zu kritisieren begannen, wurde er auf eine linguistische Verschiebung im medizinisch-physiologischen Weltgerüst aufmerksam. Er vermutete, dass die US-amerikanischen Physiologen seine Arbeiten schlichtweg nicht verstanden. Zunächst war es ihm ein Anliegen, seine Konkurrenten vor Fehlern zu bewahren: Ihre mangelnden Sprachkenntnisse führten in seiner Wahrnehmung zu bedauernswerten experimentellen Missgriffen. Er versuchte zu intervenieren, doch konnte er das von ihm wahrgenommene Missverständnis seiner Arbeiten weder durch englischsprachige Publikationen noch durch Korrespondenztätigkeit korrigieren. Dass diese transatlantische Auseinandersetzung vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jäh unterbrochen wurde, besserte die Sache nicht. Nun fanden nämlich die deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften kaum mehr eine Passage über den Atlantik, zudem gab es offenbar von vielen Seiten unmittelbar nach Kriegsende Ressentiments gegen Deutsch – wahrgenommen als Sprache der Faschisten – als Wissenschaftssprache.
Walter Rudolf Hess als 90-Jähriger von hinten neben einer Büste seines Kopfs, 1971.

Der mehrsprachige Internationalismus am Ende

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Welt eine andere geworden. Erstmals erhielten US-amerikanische Forschende mehr Nobelpreise als andere Nationen, und die sich im Rahmen des US-Atombombenprogramms («Manhattan Project») entwickelnde Wissenschaftspolitik markierte ein vorläufiges ideelles Ende des institutionalisierten wissenschaftlichen Internationalismus [2]. Die Wissenschaft hatte als Element des modernen Fortschrittsprojekts definitiv ihre Unschuld verloren. Aus verschiedenen Gründen erhielt Walter Rudolf Hess im Jahr 1949 die Hälfte des Nobelpreises für Physiologie und Medizin [3]. Dies änderte nichts daran, dass er, wie viele andere europäische Forschende, gegenüber der englischsprachigen Wissenschaftswelt weiterhin skeptisch eingestellt war. Immer wieder hielt er eigene Studierende, die Forschungsaufenthalte in den USA absolvierten, dazu an, ihm über die Verbreitung und Wahrnehmung seiner eigenen Ideen und Arbeiten zu berichten. Beim 19. internationalen Physiologenkongress in Montreal 1953, der praktisch ausschliesslich auf Englisch abgehalten wurde, versuchte Hess noch einmal eine Intervention: Anlässlich der Abschlusssitzung des Kongresses bat er die versammelte Physiologengemeinschaft, dem Deutschen einen Ehrenplatz als eine der internationalen Sprachen der Physiologie zu bewahren [4]. Die linguistische Wende war aber nicht aufzuhalten, sodass Hess in den darauffolgenden Jahren auf dem internationalen Parkett immer seltener in Erscheinung trat. Neben den sprachlichen Holpersteinen erwies sich ­ eine mit dem Alter einsetzende Schwerhörigkeit als hinderlich.

Deutsch in Wissenschaft und Klinik

Natürlich war Hess weder der Erste noch der Letzte, der diese Verschiebung bemerkte. Die redaktionelle Entscheidung um die Jahrtausendwende, aus der 125-jährigen Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift (ursprünglich Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte) aus Prestigegründen («impact factor») das ausschliesslich englischsprachige und auf wissenschaftliche Artikel ausgerichtete Swiss Medical Weekly zu machen und alle anderen «fortbildungsorientierten» Beiträge ins Swiss Medical Forum auszulagern, zeugt von einer verspäteten Reaktion auf die Dominanz des Englischen in der wissenschaftlichen Biomedizin [5]. Nun wird diese Verschiebung nicht nur aus nostalgischen Gründen kritisch beäugt, oder wie im Falle von Hess aus Angst vor Fehlern mangels Sprachkenntnissen. Der Zürcher Onkologe Bernhard Pestalozzi wies beispielsweise darauf hin, dass Wissenschaft aus «kognitiven Fähigkeiten zur Differenzierung inklusive intuitiver und emotionaler Fähigkeiten» bestehe [6]. Aus diesem Grund sei eine ­unkritische Übernahme des Englischen im Falle einer anderen Muttersprache gerade in wissenschaftlichen Kontexten zu überdenken.

Sprache in der ärztlichen Praxis

Über die Wissenschaft hinaus ist Sprache natürlich in der gesamten ärztlichen Arbeit zentral: Dabei geht es nicht nur um patientengerechte und verständliche Kommunikation («Gesundheitskompetenz»), sondern auch wesentlich um die psychosoziale Gesundheit der Patientinnen und Patienten in einem bestimmten kommunikativen Setting («patient-provider language concordance»). Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund etwa bedürfen der Empathie sowie des lebensweltlichen und kulturellen Verständnisses – Dinge, die wesentlich über Sprache vermittelt werden: Kranksein («illness») ist eben nicht einfach mit einer Krankheit («disease») gleichzusetzen. Zahlreiche Studien zeigen, dass neben dem interkulturellen Verständnis auch ein interlinguistisches Verständnis mindestens ebenso wichtig ist [7]. Zentrale ethische Aspekte der ärztlichen Behandlung wie Autonomie und Compliance von Patientinnen und Patienten hängen wesentlich vom Gelingen der Kommunikation ab. Dies gilt für die somatische Medizin und vielleicht fast noch mehr in der Psychiatrie, wo bereits das Hochdeutsche in einem Spannungsverhältnis zum Schweizerdeutschen stehen kann. Es ist zudem erwiesen, dass Sprachbarrieren wichtige Faktoren für Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung darstellen [8].

Ein Blick auf die Ausbildung

Vor diesem Hintergrund ist folgende Beobachtung ­interessant: Der Bachelor in Humanmedizin wird an der Universität Zürich, an der Universität Bern und an der Universität Basel mit wenigen Ausnahmen noch in der Unterrichtssprache Deutsch gelehrt, die Universität Fribourg bietet ihn zweisprachig in Deutsch und Französisch an, in Neuchâtel und Genf wird auf Französisch unterrichtet. Die ETH, die jüngste Hochschule mit einem solchen Bachelor im Angebot, ist schon weniger patientenorientiert und stattdessen auf biomedizinische Spitzenmedizin ausgerichtet. Hier wird entsprechend schon im dritten Jahr vermehrt auf Englisch unterrichtet. Damit werden die Studierenden auf den hauseigenen Studiengang in «Biomedical Engineering» mit Unterrichtssprache Englisch vorbereitet.

Mehrsprachigkeit für eine soziale Medizin

Wie im Falle der Zeitschrift Swiss Medical Weekly ist das natürlich ein Hinweis auf die Trennung zwischen «globaler» (d. h. englischsprachiger, prestigeträchtiger) biomedizinischer Forschung an der ETH und der ärztlichen klinischen Praxis, letztere gewissermassen für den lokalen Eigengebrauch. Nun ist die Anglisierung der Wissenschaftssprache als globale Wissenschaftssprache unvermeidlich und auch nützlich, wie der Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz Antonio Loprieno vor einigen Jahren schrieb [9]. Loprieno konstatierte eine «postmoderne Polarität» zwischen einer überregionalen und etwas sterilen Standardsprache, die «durch den weltweiten Gebrauch eine eindeutige kulturelle Identität verloren hat», und lokalen Sprachen und Dialekten «mit eingeschränkter kommunikativer Resonanz, die aber gesellschaftliche Werte stiften». Dieser wissenschaftliche Internationalismus, der vertikal zwischen einer globalen Kommunikations- und einer lokalen Identitätssprache unterscheidet, ist jedoch etwas anderes als der horizontale mehrsprachige Internationalismus, den Hess noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt hatte. ­Daran erinnern heute vielleicht noch die Gepflogenheiten im Schweizer Parlament mit seinen vier Amtssprachen oder im europäischen Parlament mit 24 Amtssprachen, wo das Recht auf Debatten in der eigenen Sprache sogar in der Verfassung festgehalten ist.

Medizin ist sozial

Die klinische Praxis, insbesondere in Zeiten der Globalisierung und der Migration, würde nun von diesem älteren Verständnis von Internationalismus profitieren, zumal die «postmoderne» Unterscheidung in globale und lokale Kommunikationsweisen für die Medizin nicht immer sinnvoll ist und je nachdem auch nicht gewährleistet werden kann: Eine Fremdsprache wie Englisch ist eben möglicherweise nicht die beste Wahl für eine gelungene «patient-provider language concordance». Das Einstehen für die Vorzüge einer mehrsprachigen Praxis und die Sensibilisierung für die Probleme einer neutralen Verkehrssprache gemahnen an ein berühmtes Diktum von Rudolf Virchow, einem der ideellen Vorgänger von Hess: Gemäss Virchow ist «Medizin […] eine soziale Wissenschaft». Und das Soziale spielt sich nun einmal überwiegend in einem sprachlichen Raum ab.
Dr. phil. Leander Diener
Universität Zürich
Institut für Biomedizinische Ethik u. ­Medizingeschichte
Winterthurerstrasse 30
CH-8006 Zürich
leander.diener[at]uzh.ch
1 Stockhammer E. Zum dreissigsten Todestag des Neurophysiologen Walter Rudolf Hess. Schweiz Ärzteztg. 2003;84(39):2048–2051
3 Diener L. Gold für eine imaginäre trading zone. Die doppelte Vergabe des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin 1949. In: Hansson N, Pfeiffer DA (Hrsg.). Laureaten und Verlierer. Der Nobelpreis und die Hochschulmedizin in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wien: Vienna University Press; 2021. 47–65.
4 MacIntosh FC, Best CH. Nineteenth Congress Montreal – 1953. In: Fenn WO (Hrsg.). History of the International Congresses of Physiological Sciences 1889–1968. Baltimore: International Union of Physiological Sciences; 1968.37–42.
5 Schaffner A, Gehr P, Perruchoud A, Straub W, Suter P, von Segesser L. Welcome Editorial. Swiss Med Wkly 2001;131:3.
7 Lor M., Martinez GA. Scoping review: Definitions and outcomes of patient-provider language concordance in healthcare. In: Patient Educ Couns. Oktober 2020;103(10):1883–1901.
8 Chu JN, Sarkar U, Rivandeneira NA, Hiatt RA, Khoong EC. Impact of language preferences and health literacy on health information-seeking experiences among low-income, multilingual cohort. ­Patient Educ Couns. 26.08.2021;S0738-3991(21)00574-7 [11.09.2021]. DOI: 10.1016/j.pec.2021.08.028