Von der antiken Tragödie zu modernen Seifenopern

Die Vorfahren von «Grey’s Anatomy»

Horizonte
Édition
2021/24
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19905
Bull Med Suisses. 2021;102(24):826-827

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Mitglied FMH

Publié le 15.06.2021

Von Studiosendungen wie dem allmontäglichen Gesundheitsmagazin Puls bis hin zu medizinischen Seifenopern à la Grey’s Anatomy: Der mediale Hype rund um unseren Beruf ist noch immer ungebrochen. Während die einen über medizinisch-technische Neuig­keiten informieren, setzen die anderen lieber auf emo­tions­geladene Erzählung und blutspritzende Fiktion. Wissenschaftliche Aufklärung hier und Weisskittelpathos dort: Entschiedenere Gegensätze liessen sich wohl kaum formulieren. Und dennoch zeigen beide TV-Produktionen einen ähnlich unbestrittenen Unterhaltungswert. Das lässt auf gemeinsame Gene beziehungsweise auf eine multimediale Urmutter schliessen. So wollen wir nun diesbezüglich auf die Suche gehen und eine Zeitreise buchen – zurück ins klassische Griechenland, den Geburtsort der attischen Tragödie. EasyJet bedient diese Traumstrecke leider nicht – aber Berauschendes ist inbegriffen: Unser Local Guide heisst nämlich Friedrich Nietzsche (1844–1900).

Zwei ungleiche Brüder

Weit abseits aller Urlaubsprospekte zeigt uns Nietzsche ein hochsensibles griechisches Volk, das sich seiner ­eigenen Unvollkommenheit und Zerbrechlichkeit leidvoll bewusst gewesen sei. Als willkommene Ablenkung habe man sich daher gerne von Götter- und Göttinnen-Soaps einlullen lassen, die – in immer neuen Staffeln – typisch menschliche Schicksale in olympischen Ge­filden widerspiegelten. Die Regiearbeit an diesen idealisierenden Seifenopern habe der Gott Apollon übernommen, der Schutzpatron der ästhetischen Phantasie. Gleichzeitig seien aber die weisen Griechen darauf bedacht gewesen, ihre wohlgeformten Traumwelten nicht überhandnehmen zu lassen. Dafür habe Dionysos, der Halbbruder Apollons, gesorgt, der Gott des Rausches, des vernunftlosen Selbstvergessens und eines – in Freude und Schmerz – übersteigerten Lebensgefühls. Mit dem ihm eigenen Furor habe Dionysos die apollinischen Kunstprodukte immer wieder zerzaust und einen tiefen Blick in die schwindelerregenden Abgründe des wahren Lebens eröffnet. Die dynamische Beziehung der zwei ungleichen Brüder sei dann zum Grundprinzip der attischen Tragödie geworden. Um dies näher zu erläutern, lädt Nietzsche uns nach Epidaurus ein, wo im antiken Theater gerade ein solches Spektakel gegeben wird. Er erklärt uns, dass dieses sich typischerweise auf zwei ineinander verwobenen Ebenen entwickle: der konkreten, apollinisch geformten Handlung einerseits und dem in dionysischer Ekstase versunkenen Chor andererseits. Auf die medizinische Seifenoper Grey’s Anatomy übertragen: die Geschichte rund um die Jungärztin Meredith Grey hier, und das Delir der Martinshörner, der piependen Monitoren und des schweisstriefenden Gehetzes dort. Und so nehme dann die Tragödie ihren Lauf: Der kollektive Sinnestaumel des Chors erscheine – in immer neuen Traumbildern – als apollinisches Bühnengeschehen, das sich richtigerweise nur als «sichtbare Symbolisierung der Musik, als Traumwelt eines dionysischen Rausches» interpretieren lasse. Diese halbbrüderliche Partnerschaft von Dionysos und Apollon habe sich aber auf die früheren Werke beschränkt. Später sei dann der irrationale Impetus des Chors, gegenüber der Logik einer geordneten Handlung, zunehmend in den Hintergrund getreten. Schuld an dieser allmählichen «Vertreibung der Musik aus der Tragödie» sei das aufkommende, sokratisch geprägte philosophische Denken gewesen, das den massvollen, apollinischen Hang, dem überschwänglichen, dionysischen Chor eine gewisse Form zu geben, auf die Spitze trieb: hin zu einem durchrationalisierten Weltbild der Konzepte und Begriffe, wo es für Dionysos keinen Platz mehr gab. So sei denn aus der Tragödie schlussendlich das «bürgerliche Schauspiel» hervorgegangen: intelligent, unterhaltsam, lehrreich und manchmal auch dramatisch. Eine brave Tochter, durchaus – doch ohne die abgründige Fülle ihrer mitreissenden attischen Übermutter.

Dionysos geht in die Oper

Für Nietzsche wird die Evolution von der Tragödie zum Schauspiel zum Paradigma einer einseitig rationalen, «sokratischen» Orientierung des Menschen. Formeln wie «Wissen ist Tugend» und «Wissen macht glücklich» seien Scheuklappen fürs tiefere Gemüt und Todfeinde jeder echten künstlerischen Begeisterung. Er liess es aber nicht bei dieser Kultur- und Wissenschaftskritik bewenden, sondern hegte den Traum, die griechische Tragödie im deutschen Raum neu zu beleben. Damit schmeichelte er dem eitlen Gesamtkunstwerker Richard Wagner, meinte er doch, in dessen ­Musik die ­Natur des attischen Chors wiedergefunden zu haben: im dionysisch-schwelgerischen Rausch des Orchesters, das sich als apollinischer Traum auf der Opernbühne manifestiere. Deren Akteure würden damit gewissermassen selbst zum Kunstwerk – als ästhetisches Phänomen, als sichtbarer Abglanz der betörenden Musik.

«Grey’s Anatomy» und ihr Töchterlein

Nach dieser Muttersuche in der Vergangenheit wollen wir nun aber zur Gegenwart zurückkehren beziehungsweise zu den zeitgenössischen Nachfahren der altgriechischen Unterhaltungsindustrie. Die Studioproduktion Gesundheitsmagazin Puls könnte man zu Recht als Schauspiel im Sinne Nietzsches bezeichnen: ein «sokratisches» Töchterlein – etwas spröde vielleicht, aber lehrreich und durchaus unterhaltend. Grey’s Anatomy hingegen, diese turbulente Mischung aus individuellem Lebenstraum und kollektivem Sinnestaumel, kommt der gefühlten Lebendigkeit des me­dizinischen Alltags bedeutend näher. Ob eine solche Seifenoper aber an die Kusinen in Bayreuth oder gar an die attische Urmutter heranreichen kann, sei der spekulativen Fantasie der Leserinnen und Leser über­lassen. Unser Reiseführer ist diesbezüglich auch keine grosse Hilfe: Ihm war ja die endlose Story um Meredith Grey & Co. noch gar nicht bekannt. Wer weiss: Vielleicht hätte er sie wirklich als apollinische Traumwelt wiedererkannt – als Abglanz des dionysischen Klamauks fiktiver Notaufnahmen und heroischer Eingriffe.
Übrigens: Das Zusammenwirken von Apollon und Dionysos tritt nicht nur in der multimedialen Welt in Erscheinung. Wir finden das antagonistische Brüderpaar auch im Umfeld existentieller und tiefenpsychologischer Betrachtungen. Googeln Sie es doch einfach mal, zusammen mit «Nietzsche» oder «Die Geburt der Tragödie». Oder folgen Sie meinem Rat: Besuchen Sie eine Buchhandlung und schnappen Sie sich eine der vielen Friedrich Nietzsche zur Einführung. Als Ferienlektüre vielleicht – für «Balkonien» oder besser noch für Ihre nächste Griechenlandreise. Um gebräunt und entspannt zurückzukehren: bereit für die nächste Staffel Ihres Berufslebens.
Jann P. Schwarzenbach
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