… Daniela Bertschy, Leiterin Pflege und Mitglied der Geschäftsleitung in der Klinik Arlesheim

«Es gibt bei uns kein Gärtchen-Denken»

Horizonte
Édition
2021/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19633
Bull Med Suisses. 2021;102(10):377-379

Affiliations
Freier Journalist und Fotograf, Medientrainer, Bern

Publié le 09.03.2021

Es mache ihr nichts aus, ab und zu im Regen zu stehen, sagt Daniela Bertschy beim Fototermin. «Das Leben findet nicht nur auf der Sonnenseite statt», ergänzt sie, und die Mehrdeutigkeit ihrer Aussage ist sofort klar: Auch wenn sie heute vorwiegend Managerin ist, schlägt das Herz dieser Pflegefachfrau für kranke Menschen, psychisch kranke vor allem.

Zur Person

Daniela Bertschy wurde 1980 in Luzern geboren. 1998 bis 2001 absolvierte sie die Schule für Krankenpflege am Kantonsspital Luzern. Sie bildete sich weiter in der Psychiatrie- und der anthroposophischen Pflege. 2003 begann sie als Dauernachtwache ihre Tätigkeit in der anthropo­sophischen Klinik Arlesheim, die dieses Jahr – so gut es in der aktuellen Situation möglich ist – ihr 100-Jahr-Jubiläum feiert. 2012 wechselte Bertschy in den Tagdienst, 2013 wurde sie Sta­tionsleiterin Psychiatrie. Seit 2017 leitet sie den Bereich Pflege der ganzen Klinik; zudem ist sie Mitglied der vierköpfigen Klinik­leitung. Daniela Bertschy ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Sie lebt mit ihrer Familie in Lausen (BL).

Tandems

Wunden verbinden? Daniela Bertschy zuckt zusammen. «Nein, gar nicht – meine Kernkompetenz ist reden.» Und planen, organisieren, wäre anzufügen. Mit diesen Fähigkeiten hat sie sich in der Klinik Arlesheim bis in die Geschäftsleitung emporgearbeitet, was für eine Pflegefachfrau sicher selten ist. Und von Beginn weg hat sie neuen Wind in die anthroposophische Insti­tution gebracht, die dieses Jahr 100-jährig wird.
«Tandem» ist ihr Credo – ein Grundsatz, der hier inzwischen auf allen Hierarchiestufen verwirklicht ist. Das Tandem-Modell beinhaltet, dass von der Stations- bis zur Klinikleitung auf allen Ebenen immer je ein Vertreter / eine Vertreterin der Pflege und der Ärzteschaft die Verantwortung gemeinsam übernehmen bzw. teilen. «Als ich hier ankam, war ich mit den klassischen ­Grabenkämpfen zwischen Ärzteschaft und Pflege ­konfrontiert», erklärt Bertschy. «Das hat mit einem Denken in Professionen zu tun und ist letztlich eine Machtdiskussion.» Ihre Leitungsjobs hat sie nur unter der Bedingung übernommen, dass an diesen traditionellen Strukturen und Barrieren etwas geändert wird. «Das Management soll unabhängig sein von der Basis-Profession», erklärt Bertschy. «Es geht um ein Mitein­ander und darum, dass wertvolle Energie nicht in eine­m Gegeneinander verpufft, sondern den Patientinnen und Patienten zugutekommt.»
Wichtig sei, dass sie für solche Grundsätze nicht ­gekämpft, sondern nur mit guten Argumenten geworben habe. Anlaufschwierigkeiten habe es schon gegeben, beispielsweise dann, wenn es um den zuständigen ­Ansprechpartner ging: «Das neue Modell zu leben war zu Beginn recht anstrengend.» Jetzt funktioniere das meiste sehr gut. «Die Basis ist mehr involviert, und damit ist auch die Akzeptanz von Entscheiden ­höher.»

Sorgfalt

Bloss bei sich selbst scheint es zurzeit Korrekturbedarf zu geben. Ihre Doppelrolle müsse geschärft werden, sagt Daniela Bertschy, «es gibt Phasen, wo ich nicht ­alles reinkriege, und dann fehlt mir manchmal die Sorgfalt in der Themenbearbeitung».
«Sorgfalt» ist für diese Pflegefachfrau in dieser Klinik ein Schlüsselbegriff. Darauf angesprochen, was denn aus ihrer Sicht diese anthroposophische Klinik von anderen, «herkömmlichen» Spitälern unterscheide, verwendet sie den Begriff «die gemeinsame Sorgfalt». Jede Patientin, jeder Patient habe hier einen Namen, «wir sprechen nicht vom Blinddarm im Zimmer 27». In der Psychiatrie hätten alle Patientinnen und Patienten vom Eintritt bis zum Austritt vier Bezugspersonen, zwei aus der Ärzteschaft und zwei aus der Pflege, «ein Behandlungsteam, auf das sich ein Patient einlassen kann. Gemeinsam versuchen wir, vom jeweiligen kranken Menschen ein grösseres Bild zu erhalten und ihn nachher auch mit einem möglichst umfassenden Ansatz zu behandeln.»
Und was bedeutet «Sorgfalt» für die andere Seite, die Angestellten? «Der Umgang ist anders als dort, wo ich früher gearbeitet habe», sagt Daniela Bertschy. «Wir werden hier geschätzt und ernst genommen. Ist jemand unzufrieden, kann er Änderungen vorschlagen und mitgestalten.» Das Dilemma, seine Zeit zwischen administrativen Arbeiten und dem Dienst am Patienten aufteilen zu müssen, existiere wie überall. Aber: «Hier gibt es Spielräume, und die werden auch genutzt.»

Anthroposophische Medizin

Medizin und Pflege, die in der Klinik Arlesheim an­geboten werden, basieren auf anthroposophischen Grundsätzen, die auf Rudolf Steiner zurückgehen – und auf die sozial engagierte Frauenärztin Ita Wegman, die diese Klinik vor 100 Jahren gegründet hat. Als Frau sei sie besonders stolz auf das, was diese Frau geschaffen habe, sagt Daniela Bertschy, und sie sei schon lange fasziniert vom anthroposophischen Ansatz in der Medizin und der Pflege. Und sie fügt, ziemlich überraschend, hinzu: «Und dies, obschon ich selbst keine Anthroposophin bin und Steiner nicht ausführlich gelesen habe.»
Anders als in anderen Kliniken sei hier der gesamtheitliche Ansatz, erklärt Bertschy, legt aber Wert auf die Präzisierung, dass in Arlesheim keine alternative, sondern – nebst der Schulmedizin – eine komplementäre Medizin angeboten werde. Dazu gehören zum Beispiel die sogenannten «äusseren Anwendungen» wie Bäder, Wickel, rhythmische Massagen und Einreibungen (mit Öl oder Salben), dazu gehören Elemente wie Phytotherapie, Sprachgestaltung, das Heilsingen, Gestalten mit Ton und mit Tönen, kunsthandwerkliches Arbeiten und Musiktherapie also. Und: Dazu gehört der Ansatz, dass Selbstwirksamkeit und Entwicklung beim Patienten unterstützt werden sollen, statt ihn in der Opferrolle versinken zu lassen.
Einzelne dieser Komponenten gebe es in anderen Spitälern auch, ja, aber: «Was mich hier so fasziniert, ist das sorgfältige Zusammenspiel von allem.» Sie finde heute in Arlesheim kaum mehr Dogmatismus. Damals, als es noch zwei Kliniken gegeben habe, die Ita-Wegman- und die Lukas-Klinik, seien die Meinungen ­darüber, was unter Anthroposophie zu verstehen ist, weit auseinandergegangen, «da prallten Welten auf­einander».
2014 wurden die beiden Häuser zusammengelegt und philosophische Gräben zugeschüttet; ein Prozess, der offenbar nie ganz abgeschlossen ist, zumindest organisatorisch nicht. «Wir sind als lernende Organisation immer wieder daran, unser Organigramm zu verfeinern und unseren Weg in die Zukunft auszugestalten.»

Corona

Einer besonderen Belastungsprobe war und ist die Klinik Arlesheim – wie andere Spitäler auch – während der Corona-Pandemie ausgesetzt. «Viele wollten ja Covid-19-­Patienten zum Schutz ihrer Mitarbeitenden nicht behandeln, die Rede war sogar von ‘sauberen Spitälern’», erzählt Bertschy mit spürbarer Empörung. Ihre Klinik habe zum Glück schon lange viel Erfahrung mit Lungenpatienten, deshalb seien hier vor allem während der zweiten Welle in einer speziell geschaffenen Isolierstation bisher über 100 Covid-Kranke behandelt worden. «Das haben wir mit unserem eigenen Personal gestemmt; die interne Solidarität war und ist sehr eindrücklich», berichtet Bertschy, «diese Krise hat die DNA dieser Klinik schön gezeigt: Es gibt bei uns kein Gärtchen-Denken.»
Nun ist ja bekannt, dass es gerade in anthroposophischen Kreisen Corona-Skeptiker oder sogar -Leugner gibt – wie waren die konkreten Erfahrungen in Arlesheim diesbezüglich? «Es gab einen einzigen Mitarbeiter, der sich öffentlich in diese Richtung geäussert hat», bestätigt Daniela Bertschy als Mitglied der Klinikleitung. Er werde dies nicht mehr tun, und es sei klar, dass sich in diesem «Corona-Referenzspital» alle an die geltenden Vorschriften und Empfehlungen halten würden. Eine klare Haltung nimmt die Klinik Arlesheim auch beim Thema «impfen» ein. Auf ihrer Website schreibt sie: «Wir sehen Impfungen als wichtigen Beitrag zur Reduktion von gefährlichen Krankheiten an. Wir setzen uns für eine aktive Aufklärung und eine freie individuelle Impfentscheidung ein.» Beim Kanton habe man schon lange darum gebeten, dass sich die Mitarbeitenden impfen lassen können, dies laufe bald an.

Die andere Seite

Ausgangspunkt einer weiteren Überraschung bei ­dieser Begegnung ist der Schreibzeughalter auf dem Besprechungstisch: Er wirbt für den Eishockey-Club Ambrì-Piotta. «Ja, ich habe ein zweites Leben», kommentiert Daniela Bertschy mit Freude. Eines, in dem die Sorgfalt nicht die Hauptrolle spielt. Als Kind habe sie selbst Eishockey gespielt, und während eines Praktikums im Tessin habe sie den HC Ambrì-Piotta kennen- und schätzen gelernt. Seither reise sie während der entsprechenden Saison zweimal pro Monat südwärts, mittlerweile sei ihre ganze Familie mit diesem Virus infiziert. «Im Stadion geht es dann laut und wild zu und her, da kann ich auch mal schreien oder fluchen», das tue gut und das brauche sie als Ausgleich.
Das – und die Gewissheit, dass sie auch zu Hause auf ein gut funktionierendes Tandem zählen könne. «Wenn mein Mann und ich uns etwas in den Kopf gesetzt haben, verwirklichen wir es einfach, auch wenn wir keine handwerklichen Spezialisten sind.» So haben die beiden beispielsweise ein mit Holz beheizbares Badefass gebaut und in den Garten gestellt. Und sie haben sich einen alten Lieferwagen gekauft und umgebaut. «Nein, das ist kein Camper», präzisiert Daniela Ber­tschy, «sondern ein Lieferwagen ohne Fenster und Vorhänge und Chichi. Wir campen auch nicht, wir fahren manchmal einfach weg und übernachten irgendwo.» In Irland beispielsweise, auf einer Klippe. «Und am Morgen öffnen wir die Tür und sehen aufs Meer.»
Einen gewissen Hang zur Romantik kann diese sonst sehr bodenständige Frau wohl also nicht abstreiten. Ihre Freude am Regen könnte auch damit zu tun ­haben.
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