Empathie: ein Problem?

Briefe / Mitteilungen
Édition
2021/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2021.19618
Bull Med Suisses. 2021;102(07):242-243

Publié le 16.02.2021

Empathie: ein Problem?

«Wir wünschen Ihnen nun viel Freude und anregende Gedanken bei der Lektüre dieses letzten Themenheftes ‘100 Jahre Schweize­rische Ärztezeitung’» – so die Einladung im Editorial «Nach dem Rückblick ein Ausblick». Mich stimmte die Lektüre vor allem nachdenklich: zu denken gibt mir die Digitalisierungs-Euphorie, welche – trotz kritischen ­Reflexionen – den nachfolgenden Beiträgen zugrunde liegt. Auf der Grundlage des modernen Personalisierungsdogmas wird der «Fortschritt der künstlichen Intelligenz» auch für die Medizin implizit als die Grundlage der weiteren Entwicklung schlechthin zelebriert.
Zwar wird nebst dem «Festplatteproblem» und dem «Expertenproblem» auch noch das «Empathie-Problem» erwähnt. Die Empathie gehe nämlich während des Studiums zunehmend verloren und müsse vorläufig, bis zur Entwicklung einer «Artificial General Intelligence», durch die «Mediziner aus Fleisch und Blut» noch trainiert werden. Empathie so­zusagen im Nebenfach. Der populärwissenschaftliche Autor Yuval Noah Harari verfolgt in seinen drei Bestsellern seit langem die Visi­on der Ablösung des Homo sapiens durch den digitalisierten Homo deus. Der empathische Arzt werde dabei überflüssig, während für das Pflegepersonal die Empathie eher noch von Bedeutung bleibe.
Ich erlebe die «Personalisierte Medizin» sozusagen als Gegenstück zur «Individualisierten Medizin», wenn auch diese Begriffe oft synonym verwendet werden. Als ein Konzept, das die Patientin auf «eine Vielzahl von genetischen und bio-chemischen Messgrössen» (TA-SWISS Newsletter 1/2014) reduziert. Unter dem Diktat einer lukrativen «massgeschneiderten Pharmakotherapie» (Wikipedia) steht dabei nicht die individuelle gesamtmenschliche Entwicklung im Fokus, sondern die mitgebrachte genetische Ausstattung.
Der Begriff leitet sich ja von der persona im römi­schen Recht ab, einer formaljuristischen Zuordnung, welche schliesslich im Utilitarismus zu einer bedenklichen Unterscheidung zwischen «Person» und «Mensch» geführt hat. Der Begriff des «Individuums» demgegenüber bezeichnet gerade die unteilbare Ganzheit des einzelnen Menschen, die «Entelechie» als das einmalige Wesen des Menschen bei Aristoteles.
Ich habe das Interesse für den individuellen Patienten mit seiner je einmaligen Biographie in der Gesamtheit der Beziehungen zu seiner Um- und Mitwelt nicht nur als die ent­scheidende Grundlage, sondern auch als die schönste Herausforderung der Medizin verstanden. Für mich ist die Empathie nicht Zugabe, sondern die unverzichtbare Basis alles ärztlichen Handelns.