Beziehungen sind keine fixen Grössen, sondern werden beeinflusst sowohl durch unsere Innenwelt als auch durch Dinge, denen wir von aussen ausgesetzt sind, wie aktuell die Covid-19-Pandemie. Vom Kratzen im Hals, der lästigen Geschmackseinbusse bis zum Tod binnen fünf Tagen kann von dieser Virusinfektion alles ausgehen. Wie beeinflusst diese akute Bedrohung die Begegnung mit unseren Patientinnen und Patienten? Die Pandemie war ein komplett unerwarteter Einbruch in unsere Leben, wir waren erschreckt und verstanden nicht. In der ersten Konfusion waren wir Ärztinnen und Ärzte unsicher, ob wir uns jetzt als zentrale Stützen des Gesundheitswesens engagieren oder uns nicht doch besser um uns und unsere betagten Angehörigen kümmern sollten. Wir orientierten uns an dem, was als objektiv und wirksam bezeichnet wurde, doch auch das erwies sich als Dilemma: Zeigen wir unseren Patientinnen und Patienten unsere eigene, kritische Position oder halten wir uns widerspruchslos an die Vorschriften, um nicht noch mehr Verwirrung zu stiften? Was unsere Sprechstunden im Kern tangiert, ist nicht eine quantitative, sondern eine qualitative Veränderung, nämlich die Tatsache, dass plötzlich nicht nur unsere Patientinnen und Patienten, sondern auch wir vom Virus befallen sein, es weiter verbreiten oder gar daran sterben könnten. Eine Patientin, ein Patient kann uns anstecken – diese Möglichkeit ist Teil unseres Berufsverständnisses. Aber die Möglichkeit, dass wir die Infektion an unsere Patientinnen und Patienten weitergeben und sie dadurch gefährden könnten, ohne dass wir es merken, ist unheimlich. Jeder Hustenanfall, den ich im Praxisraum habe, führt nicht nur zur höflichen Frage: «Sind Sie erkältet?», sondern wird quittiert mit einem unsicheren Blick: «Hat sie mich jetzt angesteckt?» Durch die Nichtwahrnehmbarkeit der Infektiosität schleichen sich bewusste und unbewusste Ängste ein, die unsere Beziehungsfähigkeit existentiell beeinträchtigen. Einige Patientinnen und Patienten brachten konkret die Angst zum Ausdruck, dass sie sich in meiner Praxis – oder meinten sie durch mich? – anstecken könnten, sie fühlten sich also mitunter durch meine schlichte Präsenz bedroht, was sehr verwirrend ist. Im Lockdown im Frühling wurden überall Behandlungen unterbrochen oder gar nicht erst aufgenommen. Obwohl wir in Bereitschaft waren, blieben unsere Praxen halb leer, dies traf uns auch ökonomisch. Die Pandemie hat uns deutlich ins Bewusstsein gebracht, dass die Patientinnen und Patienten nicht nur von uns, sondern auch wir von ihnen abhängig sind. Corona konfrontiert uns ganz konkret mit der Gegenseitigkeit von Verhältnissen. In Beziehungen besteht eine gegenseitige Abhängigkeit, aber natürlich keine Gleichheit. Unser Wissen im medizinischen Bereich ist grösser als das der Betroffenen, wir können aber nicht garantieren, dass wir unser Wissen immer und nur zu ihrem Wohl einsetzen. Sie können von uns erwarten, dass wir wohlwollend, abstinent und wahrnehmungsfähig sind, sie selber müssen das nicht sein. Wir brauchen unsere Patienten, weil wir ohne sie keine Ärztinnen sind, unser Wissen nicht anwenden und davon nicht leben können. Wenn wir uns diese gegenseitige Abhängigkeit eingestehen, wird es uns leichterfallen, die Beziehung zu ihnen auch nach unseren Vorstellungen mitzugestalten. Denn dann sind wir Ärztinnen und Ärzte plötzlich Teil von etwas und nicht einzigartig. Wichtig, aber nicht unersetzlich, sorgfältig und bemüht, aber trotzdem kann auch einmal etwas schiefgehen, wir übernehmen Verantwortung, tragen aber nicht die ganze Last.