… Fulvia Rota, neue Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP)

«Ich will mehr Transparenz»

Horizonte
Édition
2020/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19399
Bull Med Suisses. 2020;101(49):1665-1667

Affiliations
Freier Journalist und Fotograf, Medientrainer, Bern

Publié le 02.12.2020

Es sind zwei Bilder, die diese Begegnung prägen: Menschen mit Masken – und ein Segelschiff in bewegtem Wasser. Ihr Segelschiff sei ihr Lieblingsort, hatte Fulvia Rota schon am Telefon gesagt. Und sie liess es auch in dem Schreiben zu Ehren kommen, mit dem sie sich als Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapiebewarb: «Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel anpassen», schrieb sie.

Heikle Themen

«Wenn ein Sturm aufkommt, machen die grossen Segel keinen Sinn, da braucht es das kleine Tuch», erklärt sie in ihrer Praxis; die Doppeldeutigkeit ihrer Aussage ist sicher nicht zufällig. Fulvia Rota steht zum Zeitpunkt unseres Gesprächs kurz vor ihrem Amtsantritt als Präsidentin einer wichtigen Fachgesellschaft. Viele kontroverse und heikle Themen beschäftigen sie und ihre Kolleginnen und Kollegen zurzeit: das Verhältnis zu den Psychologinnen und Psychologen zum Beispiel, aber auch eine mögliche zu grosse Nähe einiger Psychiaterinnen und Psychiater zur Pharmaindustrie oder zur Invalidenversicherung. Gerade solche skan­dalträchtigen Geschichten warfen vor kurzem auch in den Medien hohe Wellen. Es gebe nur wenige schwarze Schafe in ihren Reihen, sagt Rota dazu, «aber jeder, der sich von einem Auftraggeber abhängig macht, beschädigt unsere Wertigkeit als Therapeuten». Klar ist für sie schon jetzt: «Ich will mehr Transparenz.» Ihre Augen werden grösser und unterstreichen, dass sie es ernst meint.

Zur Person

Dr. med. Fulvia Rota wurde 1956 in Aarau geboren. Nach der Matura Typus C in Aarau studierte sie Medizin an der Universität Lausanne. Die Stationen ihrer Weiterbildung: Toxikologisches Informationszentrum, Zürich (1983/84), Chirurgie Triemli, Zürich (1985/86), Kantonale Psychiatrische Klinik Wil, SG (1986–1988), Psychiatrische Klinik Schlössli, Oetwil am See (1988/89), Psychiatrische Poliklinik am Kantonsspital Winterthur (1989–1991). Seit 1991 führt sie, zusammen mit ihrem Mann und einer angestellten Psychologin, eine Gemeinschaftspraxis in Zürich. Seit Mitte November ist sie neue Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP). Fulvia Rota ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Söhnen. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Aeugst am Albis.

Hinter den Masken

Ob wir dieses Gespräch mit oder ohne Maske führen, ist von Beginn weg ebenfalls ein Thema. Und auch ­dieses Bild wird begleitet von einer faszinierenden Doppeldeutigkeit. Zur Erinnerung: Wir sitzen in der Praxis einer Psychiaterin, in den Sesseln der Therapeutin und des Patienten, nur sind die Rollen diesmal anders verteilt – die Fragen stellt heute der andere. Zum Beispiel: Haben Sie manchmal auch Angst? Vor dem ­Virus zum Beispiel? Rota schmunzelt, überlegt und schweigt erst mal. «Nein, eigentlich nicht. Ein Un­behagen, eine gewisse Unsicherheit, aber nicht wirklich Angst», antwortet sie schliesslich.
«Ob mit oder ohne Maske entscheide ich gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten im Sprech­zimmer», erklärt sie, «den geforderten Abstand können wir hier einhalten.» Es ist eine andere als die «normale» professionelle Distanz, dies ist auch klar, und hinter einer Maske bleiben die Hälfte des Gesichts und damit viel Nonverbales verborgen. Rota relativiert: «Wir zeigen uns ohnehin, mit oder ohne Maske.» ­Später spricht sie über die Affektforschung und dar­über, wie schwierig es ist, hinter einer Maske ein ­echtes von einem ­falschen Lächeln zu unterscheiden. «Doch», sagt sie schliesslich, «unsere Arbeit ist mit ­Corona eindeutig schwieriger geworden.» Jemanden mit Maske gleich zu Beginn kennenzulernen, sei fast nicht möglich. Und wenn man sich zur Begrüssung die Hände nicht mehr geben könne, fehle ihr auch dieser wichtige erste Eindruck von einem Patienten oder ­einer Patientin. «Einige drücken fest und klammern, andere sind ganz schlaff.»
Psychologisch etwas Positives habe eine Maske durchaus aber auch, kommt Fulvia Rota in den Sinn. Es sei ähnlich wie bei einer Psychoanalyse, wenn die Patientin, der Patient auf der Couch liege: «Wenn der Patient, die Patientin mich nicht sieht, nur hört, kann er oder sie besser bei sich selbst bleiben, besser in sich hinein hören; das gilt natürlich auch für die Therapeutin.»

Mare mosso

Zurück auf das bewegte Wasser. «Mare mosso» heisst das auf Italienisch, und ein Hauch von Italianità schwebt immer durch dieses Zimmer mit dem edlen Holzboden und der schönen Stuckdecke. Fulvia Rotas Eltern stammen aus Bergamo. «Ich wuchs in Aarau auf, aber noch heute fühle ich mich als Italienerin», stellt sie fest, und das sprichwörtliche südländische Temperament begleitet die Aussage in Mimik und Gestik.
Nur etwas mehr als die Hälfte der Psychiater und ­Psychiaterinnen sei Mitglied ihrer Fachgesellschaft, sagt die neue Präsidentin, das wolle sie ändern. «Viele holen sich, was sie brauchen, wahrscheinlich bei ihrer kantonalen oder regionalen Gesellschaft», erklärt sie, «und von den Tarifverhandlungen mit den Krankenkassen profitieren sie ohnehin, auch wenn sie nicht Mitglied der SGPP sind.» Mangelnde Solidarität? Wieder eine kurze Pause, dann ein tiefer Seufzer. «Ja, das ist für mich ein Thema.» Was tun? «Vielleicht müssen wir die Strukturen ändern. Sicher aber näher zur Basis kommen.» Die Kommunikation müsse verbessert und der jährliche Kongress noch attraktiver werden. «Oberste Priorität hat für mich der Erhalt unseres Doppeltitels.» Konkret: Viele Fachärztinnen und -ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie fühlen sich in ihrem grundlegenden Selbstverständnis bedroht. Hintergrund ist das neue Anordnungsmodell, das die eidgenössische Politik diskutiert, die Frage also, wer welche Therapie verordnen und durchführen darf. Oder ­anders ausgedrückt: ob Psychologinnen und Psychologen oder andere Mediziner als Psychiater mehr Kompetenzen erhalten sollen. Fulvia Rota kommentiert dieses Thema noch vorsichtig. «Es braucht alle», sagt sie. Aber auch: Psychologinnen und Psychologen ­würden halt weniger verdienen, die Versicherer wollten sparen, «und der Gesundheitskuchen wird nicht grösser». Diese Gesetzmässigkeiten jedoch dürften den Markt nicht bestimmen: «Wir Psychiaterinnen und Psychiater wollen künftig nicht nur schwere Störungen behandeln, Medikamente verschreiben und den Rest, zum Beispiel eine leichte Depression, andern überlassen – die gute Mischung macht den Reiz unseres Berufes aus.» Und wieder kommt der Begriff «Angst» in die Diskussion: «Wir müssen keine Angst haben», sagt sie, «der Anteil des Geldes, der in der Schweiz für die psychische Gesundheit ausgegeben wird, ist mit rund 10 Prozent vergleichsweise klein.»

Corona und die Folgen

Gerade die zweite Corona-Welle verstärke die Ängste ihrer Patientinnen und Patienten enorm, sagt Rota, sie tangiere alle Lebensbereiche, fördere die soziale Isolation. Und vieles werde in diesen Zeiten der Masken ­demaskiert. So habe die aktuelle Pandemie bei einem Flüchtling alte Traumata aufgewühlt. «Wir sind konfrontiert mit einer Bedrohung, die wir nicht fassen und nicht kontrollieren können.» Eine negative Rolle spiele dabei die Informationspolitik der Behörden. «Ich sehe, wie meine Patienten unter der Widersprüchlichkeit der offiziellen Informationen leiden, sie verstärkt bloss die bestehende, allgemeine Verunsicherung und schürt das Misstrauen.»
Eine besonders verängstigte Patientin wolle die Praxis zurzeit unter keinen Umständen aufsuchen, berichtet Rota. Mit ihr telefoniere sie halt mehrmals wöchentlich je etwa 5 bis 10 Minuten lang, «damit sie sich nicht so einsam fühlt». Eine Dekompensation und Hospitalisation könnten so vermieden werden.
Das Thema hat die neue SGPP-Präsidentin bereits auch öffentlich aufgenommen: Sie forderte in der Presse, dass eine telefonische Beratung und Behandlung nicht auf 20 Minuten limitiert ist und dass neu auch Video-Gespräche abgerechnet werden können. Der Bundesrat müsse den TARMED entsprechend anpassen. «Wenn ein Fall nicht hoch akut ist, macht eine fernmündliche ­Beratung durchaus Sinn.»

Die grosse Liebe

Drehen wir den Spiess um: Welches ist Ihre Strategie gegen die eigene Verunsicherung, Frau Doktor? «Ich frage mich, was ich tun kann, um mich sicherer zu fühlen», lautet die Antwort. Zum Beispiel: wann eine Maske angezeigt ist. Im Juni war Rota erstmals wieder in Bergamo, das von der Corona-Pandemie besonders früh und besonders heftig betroffen war. «Es war total bedrückend», berichtet sie, «aber ich fühlte mich dort sicherer als in Zürich. Die Leute waren sehr diszipliniert. Vielleicht deshalb, weil es dort niemanden gibt, der niemanden kennt, der an Covid gestorben ist.»
Italien ist für Fulvia Rota trotz allem und jetzt erst recht auch ein Ort der Zuflucht. Im Sommer waren sie und ihr Mann rund vier Wochen lang von Sardinien nach Apulien unterwegs. Via Sizilien – und mit dem Segelschiff natürlich. «Es ist meine grosse Liebe», gesteht Rota. Würde man es mir wegnehmen, würde ich krank.»
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