Komplementärmedizin im Fokus

Tribüne
Édition
2020/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19388
Bull Med Suisses. 2020;101(5152):1754-1755

Affiliations
Freie Journalistin

Publié le 15.12.2020

Rund ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz kommt aus dem Ausland. Weshalb haben sie sich für ein Leben hierzulande entschieden? Welches sind kulturelle Stolpersteine, die es zu umschiffen gilt? Und was halten sie von der Schweizer Gesundheitspolitik? Diesen und weiteren Fragen möchten wir in der in loser Folge erscheinenden Artikelserie «Grüezi Schweiz» nachgehen. In dieser Ausgabe stellen wir Wilburg Keller Roth vor, die in die Schweiz gekommen ist, um die anthropo­sophische Medizin in der klinischen Praxis kennenzulernen.
«Herr Doktor, haben Sie genug zu essen?» Wilburg Keller Roth denkt manchmal an diesen warnenden Satz zurück, der auf einem Flyer zu lesen war, den sie 1977 bei der Immatrikulation an der Universität Wien von der Österreichischen Ärztekammer in die Hand gedrückt bekam – ein Hinweis auf die drohende Arbeitslosigkeit der Jungärzte. Der Studienanfang 1977 mit 2300 Kommilitonen im gleichen Semester bei nur 800 Hörsaal- und Sezierplätzen war tatsächlich nicht leicht. Mit der ersten Multiple-Choice-Prüfung im ersten ­Semester, dem «Knochenkolloquium», wurden die ­Sezierplätze vergeben und dabei tüchtig ausgesiebt.
Neben dem Medizinstudium studierte Wilburg Keller Roth auch noch Klavier, und in Studiengruppen, Tagungen und Kursen arbeitete sie sich in die Grund­lagen der anthroposophischen Medizin ein – eine ­Erweiterung der naturwissenschaftlich orientierten Medizin durch geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte. Das Interesse für diesen ganzheitsmedizinischen Ansatz führte sie nach Abschluss des österreichischen «Turnus», der vorgeschriebenen Assistenzzeit für Allgemeinärztinnen und -ärzte, in die Schweiz. «Ich wollte herausfinden, ob sich die menschenkund­lichen Entwürfe aus dem medizinischen Vortragswerk Rudolf Steiners auch in der Praxis bewähren. In Wien existierte damals noch keine entsprechende stationäre Behandlungsmöglichkeit.»
Wilburg Keller Roth sieht die Hausarztmedizin als Traumberuf für Ärztinnen mit dem «Herz am rechten Fleck».

Neue Heimat gefunden

Im Rahmen einer internationalen Jungmediziner-­Tagung 1985 habe ihr Anton Gerretsen, der damalige Leiter der Ita-Wegman-Klinik in Arlesheim BL, spontan eine Assistentinnenstelle angeboten. Rückblickend sagt sie: «Ich kam mit der heroischen Vorstellung in die Schweiz, nach einem Jahr klinischer Erfahrung mit der anthroposophischen Medizin in die Pioniersituation nach Österreich zurückzukehren.» Doch schliesslich lernte die Ärztin ihren späteren Mann, einen gut verwurzelten Basler, kennen. So arbeitete sie noch zwei Jahre als Assistenzärztin in der Lukas-Klinik in Arlesheim mit Schwerpunkt Onkologie und Iscador-Therapie sowie eineinhalb Jahre als Assistenzärztin des Kinderarztes im Sonderschulheim Sonnenhof, ­wodurch sie sich eine breite klinische Erfahrung im Bereich der anthroposophischen Medizin aneignen konnte. Während der letzten neun Monate ihrer Assistenzzeit an der UPK Basel unter Asmus Finzen wurde ihr ein sozialpsychiatrisches Fundament vermittelt, das sich für sie bis heute im Praxisalltag bewährt.
Nach dem vereinfachten Schweizer Staatsexamen 1996 hat Wilburg Keller Roth in einer Praxisgemeinschaft in Basel selbständig zu praktizieren begonnen und ist seither in der Grundversorgung mit all ihren akade­mischen, psychotherapeutischen und geisteswissenschaftlichen Kompetenzen tätig. «Die sinnvolle Möglichkeit, im Rahmen des Sozialversicherungswesens in der Allgemeinmedizin komplementärmedizinisch zu arbeiten, gibt es meines Wissens nur in der Schweiz», sagt sie.

Unterschiedliche politische Kulturen

Heftige Sachdiskussionen wie in Deutschland seien hierzulande eher unbeliebt. Denn die vielgerühmte demokratische Schweiz habe politisch keine Diskurs-, sondern vielmehr eine Konsenskultur, was zwar gesellschaftliche Stabilität mit sich bringe, Innovation hingegen auch erschwere.
Auf die Frage, wie sie die Schweizer Gesundheitspolitik einschätzt, antwortet sie entschieden: «Es ist schon viel erreicht, wenn man sich in der Schweiz für das Gesundheitswesen der Nachbarländer so weit interessiert, dass man nicht Modelle wie beispielsweise das Einheitskassensystem einzuführen versucht, die sich im Ausland schon seit Jahrzehnten nicht bewährt haben.»
Wilburg Keller Roth erinnert aber auch daran, dass die Stundenansätze der Grundversorger auch in der Schweiz vielerorts fast um die Hälfte tiefer lägen als in anderen akademischen Berufen und teilweise sogar unter dem Niveau von Handwerkern. Denn die politischen Entscheidungen selbst der ärztlichen Standes­vertretungen seien noch stark vom historisch männ­lichen Arztbild und dem technisch Machbaren bestimmt. Medikamenten- und Maschinenhersteller verfügten über eine stärkere Lobby als Behinderte, Alte und Kranke. Indessen bestehe ein wesentlicher Teil der ärztlichen Aufgaben darin, Patienten zu begleiten, zu beraten, in guten individuellen Entscheidungen zu unterstützen, tragfähige therapeutische Gemeinschaften zu bilden, vermeidbare Behinderung zu verhindern, Leiden zu lindern und Ohnmacht gegenüber Krankheit und Sterben ertragen zu helfen. Der umfassenden Erfahrung und den hohen ethisch-rechtlichen Konzepten in den Bereichen der Psychosomatik, ­der Sozial- und Palliativmedizin hinke die tarifliche ­Umsetzung dieser Leistungen derzeit noch beträchtlich hinterher. Wer sich da als Hausarzt engagiere, müsse häufig am Jahresende mit einer Mahnung aufgrund der Rechnungsstellerstatistik rechnen. Ermutigend sei indes der interdisziplinäre Austausch innerhalb der regionalen Ärztegruppe der Schweizerischen Akademie für Psychosomatik und Psychosoziale Medizin (SAPPM) sowie der Erfahrungsgruppe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheit bei Menschen mit intellek­tuellen Entwicklungsstörungen (SSGIE), die vor etwa 10 Jahren im Raum Basel ­gegründet wurde.

Komplementärmedizin gleich behandeln

Die Wirtschaftlichkeitsprüfung, mit welcher der Schweizer Gesetzgeber die Krankenkassen beauftragt hat, sei ein ungelöstes Problem, und die Diskussion dar­über müsse so lange weitergeführt werden, bis sich eine faire und tragfähige Methode finden lasse. Der Zugang zur Komplementärmedizin sei seit der Volksabstimmung 2008 mit 67 % Jastimmen in der Schweizer Verfassung verankert, aber in der praktischen Umsetzung werde sie oft nicht gleichberechtigt behandelt. Durch die Orientierung an den allopathischen Medikamentengruppen (PCG) für das Ermitteln der Morbidität der Patienten im sogenannten «Regressions­index» werde ein komplementärmedizinisch tätiger Arzt, der weniger allopathische Medikamente einsetzt, a priori benachteiligt. Und wenn bei der IV gelte, dass eine rentenbegründende Depression nicht vorliegen könne, wenn der Patient keine Antidepressiva nimmt – trotz der miserablen statistischen Evidenz für die Wirkung dieser Medikamentengruppe – dann sollte über diese Missstände und wirksamen Vorurteile dringend ein offener gesellschaftlicher Diskurs geführt werden.

Ein Plädoyer für die Allgemeinmedizin

Den neuen Schweizer Facharzttitel «Allgemeine Innere Medizin» hält die Österreicherin für einen bedauerlichen Irrtum. «Als Allgemeinpraktiker muss man ein überzeugter Generalist sein mit viel klinischer Erfahrung. Die ganze Vielfalt der Medizin macht diesen Beruf so interessant und abwechslungsreich.»
In Sachen Nachwuchsförderung fehle in der Schweiz der ehrliche politische Konsens: Längst werde ein Gesundheitswesen ohne ärztliche Grundversorgung geplant, u.a. mit sogenannten Educated Nurses.
In ihre Praxisgemeinschaft sei nun eine junge Kollegin eingetreten. Die Vielfalt der Aufgaben und menschlichen Begegnungen mache die Hausarztmedizin immer noch zum Traumberuf für Ärztinnen und Ärzte mit dem «Herz am rechten Fleck».
Für unsere Serie «Grüezi Schweiz» suchen wir ausländische Ärztinnen und Ärzte, die uns einen Einblick in ihr Leben und ­ihren Berufsalltag gewähren. Wir freuen uns über eine Kontaktaufnahme: matthias.scholer[at]emh.ch
Pour notre rubrique «Bonjour la Suisse», nous recherchons des médecins étrangers pour nous raconter ce qu’ils pensent de leur existence et de leur quotidien professionnel. C’est avec plaisir que nous vous lirons: matthias.scholer[at]emh.ch
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