Kostenentwicklung: Relativierung relativieren

Briefe / Mitteilungen
Édition
2020/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19368
Bull Med Suisses. 2020;101(47):1569-1570

Publié le 17.11.2020

Kostenentwicklung: 
Relativierung relativieren

Wie die FMH halte ich die beiden Initiativen zur Dämpfung der Gesundheitskosten für ­untauglich. Mich befremdet aber die wiederholte Gegenargumentation von Jürg Schlup. Sie ist ein Versuch, die Kostensteigerung im Gesundheitswesen mit volkswirtschaftlichen Statistiken zu relativieren oder – salopp gesagt – kleinzureden. Es gilt, diese Relativierung zu relativieren.
1. Aktivem ärztlichem Zuhören kann nicht entgehen, dass für viele Menschen die Krankenkassenprämien eine grosse Sorge sind.
2. Wenngleich die relativen Kosten tatsächlich etwas weniger als von den Initianten behauptet gestiegen sind, so ist es ab­sehbar, dass die wachsende Zahl älterer Menschen und neuer medizinischer Möglichkeiten das Gesundheitswesen weiter verteuern wird.
3. Die bisherigen kostendämpfenden Massnahmen bestanden vor allem in staatlich erzwungenen Senkungen der Medikamentenpreise. Dies hat zu Engpässen geführt, oftmals gerade bei günstigen Medikamenten, die teilweise sogar vom Markt ge­nommen wurden. Zudem wurde die Versorgung durch Produktionsverlagerung von asiatischen Ländern abhängig. Nötige Gegenmassnahmen im fehlgesteuerten Pharmamarkt werden zu Mehrkosten führen.
4. Systemimmanente Fehlanreize, wachsen­­de Begehrlichkeiten und der Hausärzte­mangel erodieren die an sich bewährte subsidiäre Gesundheitsversorgung.
5. Der wiederholt zitierte Baumol’sche Effekt verleitet zur Missachtung der Tatsache, dass Nahrung und Kleidung nicht nur dank rationeller Produktion, sondern auch wegen Ausbeutung der Natur und der Arbeit relativ billiger geworden sind. Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit fordern ihren Preis.
6. Mit Nachdruck verlangen Pflegepersonal und paramedizinische Dienstleister bessere Arbeitsbedingungen und höhere Entlöhnung. Das kann rasch einen massiven Kostenschub auslösen.
7. Die Umweltzerstörung und deren Folgen, insbesondere der Klimawandel, drohen künftig auch zu einem Gesundheitsproblem zu werden. Sei es in primär- oder sekundärprophylaktischer Absicht, die notwendigen Interventionen könnten enorme Summen verschlingen, die auch aus dem Topf der Gesundheitsbudgets mitgetragen werden müssten.
Ob es abstimmungstaktisch erfolgsversprechend ist, die Gesundheitskostenentwicklung zu relativieren, wage ich zu bezweifeln. Diese Argumentation fokussiert auf die Indivi­dualgesundheit und ist für die Ärzteschaft mit dem Vorwurf des Eigennutzes behaftet. Hingegen glaube ich, dass bereits heute das Kostenproblem nicht genug ernst genommen werden kann, dies auch aus Verantwortung gegenüber kommenden Generationen.