Nurse Practitioner in der Schweiz

«Ein wichtiger Bestandteil gelebter Integrierter Versorgung»

Tribüne
Édition
2020/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19302
Bull Med Suisses. 2020;101(46):1547-1548

Affiliations
Chefredaktor SÄZ

Publié le 11.11.2020

Der Fachkräftemangel stellt insbesondere die Versorgung chronisch Kranker und multimorbider Patienten vor grosse Herausforderungen. Ein zentraler Lösungsansatz ist die Integration neuer Berufsgruppen. Dazu zählen unter anderem die Nurse Practitioner. Seit zwei Jahren bieten verschiedene Fachhochschulen entsprechende Ausbildungsgänge an. Die ersten Erfahrungen mit diesen speziell ausgebildeten Expertinnen und Experten sind vielversprechend – aber noch sind einige Hindernisse zu überwinden.

Zur Person

Prof. Dr. Christian Eissler liess sich zuerst zum Krankenpfleger und Rettungsassistenten ausbilden. Danach studierte der gebürtige Deutsche Betriebswirtschaft (B.A.) sowie Wirtschaftspädagogik (M.A.) und promovierte in der Humanbiologie (Dr. biol. hum.).
Seit 2015 arbeitet Christian Eissler an der Berner Fachhochschule, zuerst als Studienleiter «Spezialisierte Pflege» und seit 2017 als Studiengangsleiter «MSc Pflege».
Christian Eissler kennt die Vorteile der Nurse Practitioner aus erster Hand.
Wie sind Ihre Erfahrungen als Studiengangsleiter mit dem neuen Nurse-Practitioner-Programm? War es schwierig, genügend Teilnehmende dafür zu begeistern?
Nein, überhaupt nicht. Dieses für die Schweiz eher neue Berufsbild stösst sogar schon bei Maturandinnen und Maturanden auf Interesse. Sie rufen uns an, um mehr über das Tätigkeitsfeld der Nurse Practitioner (NP) zu erfahren, bevor sie überhaupt mit dem Studium der Pflegewissenschaften begonnen haben. Wir vergeben die Studienplätze nach dem erfolgreich abgeschlossenen BSc-Studium sowie zwei Jahren Berufs­erfahrung jedoch sehr selektiv. Bevor sich jemand für das Studium zur NP entscheidet, müssen sich die Personen mit diesem Berufsbild vollumfänglich identifizieren können. Wir gehen davon aus, dass alleine an unserer Fachhochschule pro Jahr fünfzehn bis zwanzig NPs ihr Studium abschliessen und in der Praxis tätig werden.
In welchen Bereichen finden die Nurse Practitioner nach dem Studium hauptsächlich Arbeitsstellen?
Der grösste Bedarf besteht bei der Versorgung chronisch Kranker oder multimorbider Patientinnen und Patienten. Der Vorteil der NPs ist, dass sie ihre Patientinnen und Patienten über eine lange Zeit, häufig bis zu deren Tod, begleiten. Folglich bieten sich NPs vor allem Einsatzmöglichkeiten in der Grundversorgung, in Heimen und der Spitex.
Inwieweit besteht während des Studiums die Möglichkeit, praktische Erfahrung zu sammeln?
Die Verbindung zwischen Theorie und Praxis ist von zentraler Bedeutung. Unsere Studierenden absolvieren parallel zum Unterricht 50 Praxistage in Hausarztpraxen sowie anderen geeigneten Institutionen.
Wie leicht lassen sich entsprechende Praxisplätze bei den Grundversorgern finden?
Dies ist nicht so einfach, denn erstens wissen viele Hausärztinnen und Hausärzte wenig über die Rolle und damit die Einsatzmöglichkeiten einer NP. Zweitens bedeutet die Betreuung von Studierenden immer einen zeitlichen, organisatorischen und damit finanziellen Aufwand. Es freut uns deshalb sehr, dass die Berner Gesundheits-, Sicherheits- und Integrationsdirektion GSI die Ausbildungs- und Betreuungsleistungen der Praxen im Kanton Bern vergütet. Dieser finanzielle Zuspruch hilft uns sehr, Praktikumsplätze zu finden.
Ein schöner Nebeneffekt ist übrigens, dass einige Praxen Nurse Practitioners, welche bei ihnen den praktischen Teil der Ausbildung absolviert haben, nach ­deren Studienabschluss eine Stelle anbieten. Sie konnten sich von den Vorteilen einer solchen Kooperation selbst überzeugen. Dank diesen Anstellungen können unsere Studierenden während des Praktikums zunehmend auch durch NPs betreut werden. Für uns bedeutet dies dennoch, dass wir weiterhin nach neuen Praktikumsplätzen suchen.
Sind es eher jüngere Ärztinnen und Ärzte, die sich bereit erklären, NPs während der Ausbildung Ein­blicke in den Praxisalltag zu gewähren?
Das lässt sich so nicht generalisieren. Das Alter ist nicht der entscheidende Faktor, sondern die Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen. Generell ist die Bereitschaft, NPs eine Praktikumsstelle anzubieten, bei Ärztinnen und Ärzten höher, die während ihre­r eigenen Karriere, beispielsweise in Skandinavien oder im angelsächsischen Raum, bereits mit NPs zusammen­arbeiteten. Sie kennen den Nutzen solcher Kollaborationen aus erster Hand.
In der Schweiz steht die Implementierung von Nurse Practitioners im Gesundheitswesen noch am Anfang. Mit welchen Schwierigkeiten haben sie zu kämpfen?
Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen auf ­nationaler Ebene an die neuen Bedürfnisse der verschiedenen Berufsbilder angepasst werden. Dies betrifft einerseits die Abrechnung der Leistungen der Nurse Practitioners und andererseits die Möglichkeiten, dass NPs Medikamente verschreiben. In der Romandie ist dies in gewissen Kantonen bereits der Fall. Parallel dazu besteht grosser Informationsbedarf hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten, nicht nur der NPs, sondern auch weiterer, für die Schweiz neuen Berufsgruppen. Wir hören häufig seitens der Hausärzte, dass sie keine Nurse Practitioner benötigen, da sich ihre MPA bereits in einer Weiterbildung befindet. Dabei sind dies zwei grundlegend verschiedene Berufe.
Können Sie dies etwas präzisieren?
Medizinische Praxisassistentinnen sind nicht mehr aus den Hausarztpraxen wegzudenken. In ihrer Ausbildung an einer Berufsfachschule werden ihnen wichtige Fähigkeiten vermittelt, um Aufgaben wie Blutentnahmen oder Röntgen im Praxisalltag sowie wichtige administrative Tätigkeiten zu übernehmen und damit die Ärzte zu entlasten. Sie können sich danach zur ­Medizinischen Praxiskoordinatorin weiterbilden (Anmerk. d. Red.: Siehe Kastentext). Dabei erhalten sie vertiefte Einblicke in verschiedene Krankheitsbilder, um stabile chronisch Kranke im Praxissetting zu begleiten. NPs hingegen gehen raus ans Patientenbett und durchlaufen eine akademische Ausbildung mit Abschluss auf mindestens Masterlevel. Hier arbeiten sie als Bindeglied zwischen Hausarztpraxis und Pflege. Sie ergänzen somit die Tätigkeit der Hausärztinnen und Hausärzte oder übernehmen diese so weit möglich selbständig.
Aber NPs sind keine «Ärztinnen light»?
Nein, sondern gut ausgebildete Pflegefachkräfte und Teamplayer. Es geht bei der Integration von NPs auch nicht darum, sich gegenseitig Kompetenzen und Tätigkeiten streitig zu machen. Die NPs sind schlussendlich nur eine von mehreren neuen Berufsgruppen, mit deren Integration wir gemeinsam die wachsenden Herausforderungen der Betreuung von chronisch Kranken und multimorbiden Patientinnen und Patienten effi­zient meistern können. Sie alle sind ein wichtiger Bestandteil gelebter Integrierter Versorgung.

Neue Berufsbilder – ein grober Überblick

MPK: Medizinische Praxisassistentinnen (MPAs) haben die Möglichkeit, sich zur Medizinischen Praxiskoordinatorin (MPK) weiterzubilden, wobei zwischen einer praxisleitenden und einer klinischen Ausrichtung unterschieden wird. MPKs, die sich für eine klinische Weiterbildung entscheiden, erhalten vertiefte Einblicke in ausgewählte Krankheitsbilder wie Diabetes, COPD oder Wundversorgung. Sie können danach die Beratung und Kontrolle der Langzeitversorgung von stabilen chronisch Kranken innerhalb des Praxissettings übernehmen.
APN: Die Ausbildung zur Advanced Practice Nurse (APN) erfolgt über einen Master-Studiengang an einer Fachhochschule oder Universität. Die Grundausrichtung der Ausbildung ist angewandt-wissenschaftlich mit einer hohen Praxisorientierung. Ausgebildete APNs planen in Zusammenarbeit mit den Ärztinnen und Ärzten Behandlungen und führen anspruchsvolle medizinische Massnahmen selbständig durch. Zudem leisten sie auf die Betroffenen zugeschnittene, evidenzbasierte Pflege, so dass der Alltag erfolgreich bewältigt werden kann.
Die Ausrichtung der Ausbildung zur APN kann mit verschiedenen Vertiefungsrichtungen auf den angestrebten Tätigkeitsbereich angepasst werden. Dazu zählen beispielsweise: Clinical Nurse Specialist (CNS), Forschung oder Nurse Practitioner (NP).
PA: Physician Assistants (PAs) übernehmen selbständig delegierte klinisch-medizinische Aufgaben. Zudem können sie während Operationen assistieren. PAs arbeiten deshalb typischerweise entweder in chirurgischen Abteilungen grösserer Kliniken oder in spezialisierten Abteilungen bzw. Praxen (z.B. HNO, Ophthalmologie, Urologie). In der Schweiz bietet zurzeit nur die ZHAW eine Weiterbildung für Pflegefachpersonen HF oder FH (CAS Klinische Fachspe­zialistin / Klinischer Fachspezialist) an. Übrigens: Die Physician-Assistant-Ausbildung hat ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten und wird dort als Masterstudium spezifisch für Personen, die einen militärischen Hintergrund im Sanitätsbereich haben, angeboten. Der in der Schweiz angebotene Ausbildungsgang weicht davon deutlich ab.
matthias.scholer[at]emh.ch