M wie „Mare“

Horizonte
Édition
2020/39
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.19128
Bull Med Suisses. 2020;101(39):1243

Affiliations
PD Dr. med., Lex Iatrik, Versicherungsmedizin, Luzern

Publié le 22.09.2020

Das Medizinkongress-Mangelsyndrom

Ständig hört man das Geräusch von landenden oder startenden Flugzeugen im Hintergrund. Und dann sieht man, wie ein Flugzeug mit seinen blinkenden Lichtern langsam in den Nachthimmel entschwindet, und ein bisschen Wehmut und Fernweh stellen sich ein. Die Rede ist vom Film «Mare», der seit Juni dieses Jahres im Kino zu sehen ist.
Heute ist eine Einladung zu einem Webinar von einer medizinischen Firma eingetroffen, und gestern konnte man lesen, dass der Phlebologische Jahreskongress im Nachbarland auch «virtual» besucht werden kann. Das ist eigentlich toll, und ich zweifle nicht am Lerninhalt, und doch kann ich angesichts der Flut solcher Veranstaltungen den Ausdruck «Webinar» und «virtual» nicht mehr hören. Wobei, als ich letzthin eine solche virtuelle Veranstaltung besuchte, um herauszufinden, ob sich «unser» Kongress in Budapest im kommenden Jahr auch in einer solchen Art oder als Hybrid-Veranstaltung eignen würde, nur anerkennend nicken konnte. Aber – etwas fehlte halt doch: sich mit einem Kollegen oder einer Kollegin Auge in Auge zu unterhalten, Pläne für die Zukunft zu schmieden, einen geplanten Workshop zu besprechen, eine vorgesehene Referentin oder einen vorgesehenen Referenten zu überzeugen, dass das Thema von niemand anderem so eloquent und unterhaltsam vorgetragen werden könnte. Selbstverständlich würden die Spesen übernommen, nein, ein Honorar würde es aber nicht geben, das sei heutzutage an Medizin-Kongressen nicht mehr üblich. Und ein Händeschütteln zum «abgemacht» muss man sich verkneifen, es gibt auch keine dreifachen «bises», das kann man in den folgenden Mails schreiben oder es sich vorstellen.

Ins Kino kann man jetzt wieder

Eine Maske tragen muss man dabei aber nicht. Ganz verwundert jedenfalls schaute mich die Platzanweiserin in Genf an, als ich fragte, ob sie solche zum Kaufen hätten. Nein, hätten sie nicht, aber auf beiden Seiten vom Kinosessel Nummer 13 in der ersten Reihe hätte es aus Sicherheitsgründen einen leeren Sitz.
Es ging um die avant-premiere von «été 85» von François Ozon, der nach dem Film per Skype aus Frankreich zugeschaltet war, um den Zuschauern ihre Fragen live zu beantworten – eine ausgezeichnete Idee, etwas ­ungewohnt im Kino, aber bekannt von medizinischen Veranstaltungen. Diese Art der Kommunikation ist nicht ganz ohne für das Kinopublikum, schliesslich können alle in den angeschlossenen Kinos mithören, was da an sehr gescheiten oder ganz kruden Ideen ­«coram publico» so formuliert wird.
Unser medizinischer Kongressalltag hat seit dem Frühjahr eine Veränderung erfahren. Es ist wohl auch etwas Bescheidenheit in unserem übersteuerten Alltag gefragt. Und doch würde ich gerne im nächsten April nach Buenos Aires an den Venen-Kongress fliegen. Das hat mir «Mare» so ganz ohne hollywood’schen Glanz gezeigt. Seine Geschichte, mit den an- und abfliegenden Flugzeugen in der Tonspur, stellt unser vielleicht etwas eingefahrenes Leben – wenn auch in einem ganz anderen Kontext – in Frage. Das ist gut so!