Triageentscheidungen und Altersdiskriminierung

Briefe / Mitteilungen
Édition
2020/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18971
Bull Med Suisses. 2020;101(2324):746

Publié le 03.06.2020

Triageentscheidungen und ­Altersdiskriminierung

Der Leserbrief «Morituri te salutant» [1] greift den Kommentar von Michelle Salathé zu den SAMW-Richtlinien für Triage bei Engpässen auf Intensivstationen [2] scharf an und bezeichnet die Äusserungen von Frau Salathé als Beispiel von Altersdiskriminierung. Aus meiner Sicht ist der Kommentar von Frau Salathé sehr umsichtig formuliert. Das Alter per se wird ausdrücklich nicht als Triage-Kriterium bezeichnet, sondern spielt nur indirekt eine Rolle, indem es die Aussichten auf Überleben dank intensivmedizinischen Massnahmen in einer lebensbedrohlichen Situation beeinflusst. Durch häufiger vorhandene Begleit­erkrankungen und durch reduzierte physio­logische Reserven sind ältere Menschen im Durchschnitt weniger im Stande, eine schwere akute Erkrankung zu überstehen. Das trifft übrigens auch ausserhalb von Situationen mit knappen Ressourcen zu und sollte für den Schutz von hochbetagten Menschen vor einem «acharnement thérapeutique» berücksichtigt werden. Entsprechend habe ich wenig Verständnis für die Argumente von Prof. Killer und Dr. Bruppacher, wenn sie die Aussagen von Frau Salathé als Vorwand für eine­n Kreuzzug gegen Altersdiskriminierung benutzen. Die Priorisierung von jüngeren Patienten im Rahmen der Covid-19-Pandemie wurde in den letzten Wochen intensiv de­battiert. Die Argumente von Arthur Caplan, einem führenden US-Bioethiker, welcher eine indirekte Rolle des Alters in extremen Triage- Situationen befürwortet, finde ich über­zeugend [3]. Er begründet die moralische ­Re­levanz des Alters einerseits durch das Maximieren von gerettetem Leben und andererseits durch das Prinzip von angemessenen Gelegenheiten («fair innings»), welche zwischen allen Menschen zur Erfüllung ihrer Lebens­ziele gleich verteilt werden sollen. Nach diesem Prinzip werden Lebensphasen unterschieden, bei welchen der Mensch sukzessiv einen zunehmenden Anteil seines Lebenspotentials verwirklichen kann. So kann akzeptiert werden, dass bei gleichen Erfolgschancen einer knappen therapeutischen Ressource einem jüngeren Menschen (mit viel unerfülltem Lebenspotential) der Vorrang vor einem hochbetagten Menschen (der die Möglichkeit hatte, einen grossen Teil seines Lebens zu verwirklichen) gegeben wird. Diese Mitberücksichtigung von Lebensphasen bei der Zuteilung von knappen Ressourcen wurde bereits vor der aktuellen Pandemie in einer Gesellschaft-basierten Untersuchung in Maryland als sozial akzeptabel bezeichnet [4]. Zum Schluss möchte ich noch die Befürchtung äus­sern, dass ein zu dogmatisch geführter Kampf gegen Altersdiskriminierung – siehe Abschnitt beginnend mit «In meiner Weltsicht gibt es Verdienste, welche Respekt und Dignität verdienen …» [1] – das Risiko einer Allokation von knappen Ressourcen nach sozialen Kriterien erhöhen könnte.