COVID-19: Überreaktion vermeiden

Briefe / Mitteilungen
Édition
2020/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18932
Bull Med Suisses. 2020;101(2122):688

Publié le 20.05.2020

COVID-19: Überreaktion vermeiden

COVID-19 scheint als Todesursache überschätzt zu werden [1]. Wenn die Anzahl der ­Todesfälle diskutiert wird, bleibt die Grundmortalität oft ausser Acht. «Gestorben mit COVID-19» ist nicht dasselbe wie «gestorben an COVID-19». Unter solchen Umständen können regelmässig durchgeführte Obduktionen zu einer genaueren Todesursachenstatistik und somit zu einer realistischen Letalitätseinschätzung beitragen. Ergebnisse der laufenden Letalitätseinschätzungen hängen von der Abdeckung entsprechender Bevölkerungsgruppen durch die Testung ab. Beispielsweise hat Südkorea eine umfassende Strategie der SARS-CoV-2-Testung implementiert. Dies hat zur Entdeckung einer grösseren Anzahl von SARS-CoV-2-positiven Individuen mit leichter Symptomatik geführt, was zum niedrigeren Schätzwert der Letalität im Vergleich zu Italien beigetragen hat: 1,0% vs. 7,2% [2]. Dies gilt auch für Deutschland, wo die Testung frühzeitig eingeleitet wurde. Schätzungsweise ist die Letalität von COVID-19 mit der der Spanischen Grippe von 1918 (2–3%) vergleichbar [3]. Unter Berücksichtigung der aktuellen Datenlage und des oben erwähnten Bias kann die tatsächliche COVID-19-Letalität niedriger sein. Influenza breitet sich bei den jährlichen Ausbrüchen über die ganze Welt aus und ­verursacht Millionen schwerer Krankheitsfälle. Vermutlich sterben 250 000–500 000 Menschen jährlich an der saisonalen Grippe, was eine Unterschätzung sein kann [4]. Die ­Influenzapandemien gingen mit Millionen von Todesfällen einher. Die Wirksamkeit von Reisebeschränkungen, Quarantänen, Kontaktverfolgungen usw. erscheint fraglich, da sich SARS-CoV-2 bereits weltweit verbreitet, wie es die Influenza in der Vergangenheit wiederholt tat. Der wirtschaftliche Schaden durch übermässige antiepidemische Massnahmen und Sperrungen kann die öffentliche Gesundheit stärker schädigen als SARS-CoV-2 selbst. Eine aktuelle Gefahr in der heutigen Vorgehensweise verschiedener Nationen besteht darin, dass die Länder, welche die strengsten Massnahmen ergreifen, mit einem durchschnittlich schwächeren Schutz gegen COVID-19 durch die natürliche Immunität verbleiben. Kinder, junge Erwachsene und viele andere Menschen können ihre eigene Immunantwort auf SARS-CoV-2 entwickeln, wobei das ­Risiko akzeptabel bleibt. Die irrationale Verwendung von Gesundheitsressourcen be­hindert die planmässige Patientenversorgung. Rückblickend kann der resultierende Morta­litätsanstieg COVID-19 zugeschrieben ­werden. Trotz alledem sind individuelle Schutzmassnahmen durchaus sinnvoll. Die Massenverwendung von Gesichtsmasken ist allerdings umstritten. Insbesondere bei älteren bzw. pulmonal kompromittierten Menschen können die Masken bei längeren Tragezeiten negative Auswirkungen haben.
1 Rechtsmediziner Klaus Püschel zum Coronavirus: «Angst ist völlig übertrieben», 21. April 2020;
https://www.sat1regional.de/rechtsmediziner-klaus-pueschel-zum-coronavirus-angst-ist-voellig-uebertrieben/
2 Onder G, Rezza G, Brusaferro S. Case-fatality rate and characteristics of patients dying in relation to COVID-19 in Italy. JAMA. 2020; https://doi.org/10.1001/jama.2020.4683.
3 Moura da Silva AA. On the possibility of interrupting the coronavirus (COVID-19) epidemic based on the best available scientific evidence. Rev Bras Epidemiol. 2020;23:e200021.
4 Iuliano AD, Roguski KM, Chang HH, et al. Estimates of global seasonal influenza-associated respiratory mortality: a modelling study. Lancet. 2018;391:1285–300.