Bessere Patientenorientierung

Gemeinsame Entscheidungsfindung: keine Modeerscheinung

Tribüne
Édition
2020/39
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18913
Bull Med Suisses. 2020;101(39):1239-1241

Affiliations
a MSc, Doktorandin, Universität Zürich; b Prof. Dr. med., Dipl. Soz., Leitung Klinische Ethik, UniversitätsSpital Zürich; c Prof. Dr. med. Dr. phil., Direktorin Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich; d Prof., Ärztlicher Direktor und Stv. Spitaldirektor, Universitätsspital Basel; e Prof., Stv. Chefärztin Psychosomatik und Leitende Ärztin Medizinische Kommunikation, Universitätsspital Basel

Publié le 22.09.2020

Das Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Züric­h organisierte im Dezember 2019 zusammen mit den Universitätsspitälern Züric­h und Basel ein Symposium zum Thema Shared Decision-Making. Etwa 50 Experten aus dem schweizerischen Gesundheitswesen waren zum Austausch von Erfah­rungen und Ansichten eingeladen worden. Das Treffen ist Teil der neuen Veranstaltungsreihe Excellence in Patient Care. Bereits 2018 hatte ein erstes Treffen zu Value-­Based Health Care am Universitätsspital Basel stattgefunden. Für Ende 2020 ist wiederum eine Konferenz geplant, diesmal zu Patient-Reported Outcome Measures.
Zwei international renommierte Experten – Jürgen Kasper von der Universität Tromsø, Norwegen, und France Légaré von der Université Laval, Québec, Kanada – wurden als Hauptredner eingeladen, um das Konzept der gemeinsamen Entscheidungsfindung (Shared Decision-Making, SDM) zu erläutern und ihre Erfahrungen mit der Umsetzung im klinischen Kontext und auf nationaler Ebene zu teilen.
Shared Decision-Making war Thema des Symposiums im Collegium Helveticum der Universität Zürich.
Die Teilnehmer aus der klinischen Medizin, der FMH und weiteren ärztlichen Berufsverbänden, dem Gesundheitsmanagement, dem Versicherungssektor, der medizinischen Fort- und Weiterbildung sowie von Patientenorganisationen und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften diskutierten in Gruppen anhand klinischer Themen, wie SDM in der Schweiz aktuell umgesetzt wird und welche Barrieren bisher am deutlichsten zu beobachten sind. Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion über die Anforderungen, Barrieren und mögliche Best Practice-Modelle von SDM in der Schweiz.
Als Diskussionsgrundlage dienten die von Légaré und Thompson-Leduc zusammengestellten «12 Mythen über SDM» [1]:
 1. Gemeinsame Entscheidungsfindung ist eine Modeerscheinung – sie wird vorübergehen.
 2. Bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung werden die Patienten allein gelassen.
 3. Nicht jeder will eine gemeinsame Entscheidungsfindung.
 4. Nicht jeder ist gut in der gemeinsamen Entscheidungsfindung.
 5. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung ist nicht möglich, weil die Patienten mich immer fragen, was ich tun würde.
 6. Gemeinsame Entscheidungsfindung braucht zu viel Zeit.
 7. Wir treffen bereits gemeinsame Entscheidungen.
 8. Gemeinsame Entscheidungsfindung ist einfach! Ein Werkzeug genügt.
 9. Die gemeinsame Entscheidungsfindung ist nicht mit den Leitlinien für die klinische Praxis vereinbar.
10. Bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung geht es nur um die Ärzte und ihre Patienten.
11. Gemeinsame Entscheidungsfindung ist teuer und aufwendig.
12. Gemeinsame Entscheidungsfindung berücksichtigt keine Emotionen.

Die Entscheidungsfindung als Prozess

SDM ist ein Prozess, der auf jeden Fall dann angezeigt ist, wenn die Entscheidung die Abwägung der Nutzen und Risiken von mehr als einer Behandlungsoption beinhaltet [2]. Da immer auch die Option besteht, keine Intervention durchzuführen, ist SDM auch häufig wichtig, wenn nur eine Intervention möglich ist. Patienten haben dann die Aufgabe, ihre individuellen und in der Regel nicht dem Arzt bekannten Präferenzen zu kommunizieren, ihr Wissen über ihre Gesundheit und ihren Körper mitzuteilen und die Informationen aufzunehmen, die ihnen von den Gesundheitsexperten mitgeteilt werden. Meist haben vor allem chronisch kranke Patienten selbst relevantes Wissen über Behandlungsmöglichkeiten, welches sie einbringen können.
SDM kann bei der Aushandlung von Unsicherheiten sehr effektiv sein. Grundsätzlich lassen sich drei Situationen unterscheiden [3]: «Schwarze» Situationen, in denen Gesundheitsexperten über verlässliche Evidenz verfügen, dass eine Intervention wahrscheinlich keinen Nutzen oder sogar mehr Schaden als Nutzen bringt. Sodann gibt es «weisse» Situationen, in denen eine Intervention wahrscheinlich eher Gutes als Schlimmes bewirken wird. Die überwiegende Mehrheit der Fälle ist, so France Légaré, als «grau» anzusehen. SDM ist besonders hilfreich im Umgang mit der Unsicherheit der «Grauzone».
Gemäss Jürgen Kasper hat sich folgendes Modell der Kommunikation und Entscheidungsfindung bewährt (6-Schritte-Modell):
1. Dem Patienten eine klare Auskunft darüber geben, welche Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt getroffen werden muss.
2. Den Patienten ausdrücklich darauf hinweisen, dass die geeignetste Option nicht durch die Medizin selbst definiert werden kann, sondern auf den Präferenzen des Patienten beruhen muss.
3. Die Behandlungsoptionen, ihre Vorteile und Risiken, die verfügbare Evidenz und allenfalls eigene Erfahrungen möglichst mittels evidenzbasierter Informationen darstellen; bei der Darstellung die Präferenzen des Patienten für Informationsweitergabe berücksichtigen.
4. Die Präferenzen und Bedenken des Patienten in Bezu­g auf verschiedene Behandlungsoptionen und das Ausmass der Einbeziehung in die Abwägung der Optionen erfragen.
5. Eine Entscheidung treffen und gleichzeitig genug Raum schaffen, um die Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Die Entscheidungshoheit liegt, wie im Basis-informed Consent-Modell, beim Patienten.
6. Sich mit dem Patienten über das weitere Vorgehen einigen.
Hierbei ist gemäss Kasper besonders relevant, VOR der Darstellung verschiedener Optionen zu informieren, dass die Medizin selbst nicht festlegen kann, welches der richtige Weg ist. Darüber hinaus hat es sich bewährt, abweichend von anderen Modellen, NACH Darstellung der verschiedenen Optionen die Präferenzen zu erfragen, gemäss denen der Patient in die Abwägung einbezogen werden möchte, da viele Patienten erst dann verstehen und überlegen können, wie wichtig die Einbindung der eigenen Wünsche und Vorstellungen ist.

Shared Decision-Making im Gesundheitssystem implementieren

Die Implementierung von SDM in einem Gesundheitssystem erfordert eine übergreifende systematische Strategie. Zunächst einmal sind Entscheidungsträger und klinische Kollegen zu überzeugen. In den Diskussionen wurde eine Liste an guten Gründen erstellt, ­warum SDM zur Priorität gemacht werden sollte:
– Erforderlich angesichts der präferenzsensitiven Natu­r vieler medizinischer Entscheidungen
– Weniger Über- und Fehlversorgung
– Stärkung einer wertbasierten Medizin
– Mehr Patientenorientierung im Gesundheitssystem
– Weniger Patientenbeschwerden/-prozesse
– Verbesserung der informierten Zustimmung
– Reduktion von Burnout bei Klinikern durch die Verschiebung des Fokus von der Zahl der Interventionen auf den Kern einer guten Medizin
An Voraussetzungen für eine effektive Implementierung wurden genannt:
– Sich der Akzeptanz der Organisation versichern
– Meinungsführer identifizieren
– SDM-Fortbildungen für Gesundheitsversorger anbieten
– Ausbilder schulen
– Die Öffentlichkeit sensibilisieren
– Patientenvertreter einbeziehen
– Offenen und leicht erreichbaren Zugang zu Entscheidungshilfen für Patienten anbieten
– Die Wirkung der getroffenen Massnahmen evaluieren und kommunizieren.

Es führt kein Weg daran vorbei

Wichtig ist in jedem Fall, den Begriff des Shared Deci­sion-Making konzeptuell zu schärfen. SDM ist nicht einfach nur «Patientenbeteiligung». Solche Formulierungen sind zu ungenau, und es kann der irreführende Eindruck entstehen, SDM würde bereits weithin praktiziert. Eine klare und explizite Definition von SDM und seiner Komponenten (z.B. in Form des 6-Schritte-Modells und in der zentralen Implementierung evidenzbasierter Entscheidungshilfen [2] in die Regelver­sorgung statt alleiniger Informed Consent-Formulare) kann die Umsetzung erleichtern.
Auch wenn manche Patienten es scheinbar zunächst vorziehen, dass der Arzt ihnen direkt die «beste» Behandlungsoption empfiehlt, sollten alle Patienten die Chance erhalten, die Vorteile einer gemeinsamen Entscheidungsfindung zu erfahren. Laut den beiden internationalen Experten wollen Patienten, wenn sie verstehen, was SDM ist, sich in der Regel an diesem Prozess beteiligen. Wenn Patienten einen SDM-Prozess durchlaufen haben und dann immer noch keine eigene Entscheidung treffen, sondern diese jemand anderem überlassen wollen, können sie dies selbstverständlich tun – nachdem ihnen die verfügbaren Optionen mit ­ihren Vor- und Nachteilen vorgestellt wurden.
SDM ist anspruchsvoll und verlangt Ärzten einiges ab. Es führt jedoch kein Weg daran vorbei. Patienten sind zunehmend besser über ihre Krankheit und Behandlungsmöglichkeiten informiert, so dass die medizinischen Akteure mit den neuen Kommunikations- und Beteiligungsbedürfnissen Schritt halten müssen. Daher ist SDM auch explizit und mehrfach in den Schweizer Lernzielkatalog aufgenommen worden [4]. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist dabei die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Medizinern und wei­teren Gesundheitsfachpersonen, insbesondere aus der Pflege, die sich gegenseitig bei der effektiven und auf die Patienten abgestimmten Kommunikation unterstützen können. Auf diese Weise kann SDM einen erheblichen Beitrag zu einer exzellenten Versorgung leisten.

Das Wichtigste in Kürze

• Ende 2019 fand eine Tagung zum Thema Shared Decision-Making (SDM, gemeinsame Entscheidungsfindung von Patien­t und Gesundheitsexperten) statt. Anhand klinischer Themen wurde diskutiert, wie SDM in der Schweiz aktuell umgesetzt wird und welche Barrieren noch bestehen.
• SDM wird noch nicht weitgehend praktiziert, obwohl sich die Patienten laut Experten, wenn sie verstehen, was damit geme­int ist, in der Regel am Prozess beteiligen wollen. Die Auto­ren schlagen zur Verankerung von SDM im Schweizer Gesundheitssystem eine klare Definition von SDM und seiner Komponenten vor. Die Umsetzung von SDM im medi­zinischen Alltag soll in Form des 6-Schritte-Modells und in der Implementierung evidenzbasierter Entscheidungshilfen erfolgen.
• Die Patienten sollen durch SDM die bestmögliche, auf ihre individuellen Bedürfnisse angepasste Versorgung erhalten.

L’essentiel en bref

• Une conférence sur la décision médicale partagée (DMP) entre les patients et les professionnels de la santé s’est tenue fin 2019. Sur la base de sujets cliniques, elle a examiné comment la DMP est actuellement mise en œuvre en Suisse et quels sont les obstacles qui subsistent.
• La DMP n’est pas encore largement pratiquée, même si les patients, lorsqu’ils comprennent ce terme, veulent généralement participer au processus, selon les experts. Pour ancrer la DMP dans le système de santé suisse, les auteurs pro­posent une définition claire de la DMP et de ses composantes. Sa mise en œuvre dans la pratique quotidienne devrait se faire selon un modèle en 6 étapes et par la mise en place d’outils de prise de décision fondés sur des données pro­bantes.
• La DMP doit permettre aux patients de recevoir les meilleurs soins possibles en fonction de leurs besoins individuels.
Ana Rosca
(ehemals Budilivski)
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
ana.budilivski[at]usz.ch
1 Légaré F, Thompson-Leduc P. Twelve myths about shared decision making. Patient Educ Couns. 2014;96:281–6.
2 Stacey D, Légaré F, Lewis K, et al. Decision aids for people facing health treatment or screening decisions. Cochrane Database of Systematic Reviews. 2017;(4). doi:10.1002/14651858.CD001431.pub5.
3 Lomas J, Lavis J. Guidelines in the Mist. McMaster University Centre for Health Economics and Policy Analysis 1996.
4 Michaud PA, Jucker-Kupper P, and members of the Profiles working group. PROFILES; Principal Objectives and Framework for Integrated Learning and Education in Switzerland. 2017. profilesmed.ch (zuletzt besucht: 2.2.2020).