Alain der Grosse..., eine Realsatire

Briefe / Mitteilungen
Édition
2020/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18900
Bull Med Suisses. 2020;101(1920):640

Publié le 06.05.2020

Alain der Grosse ..., eine Realsatire

In der Schule haben wir Dürrenmatts Komödie Romulus der Grosse gelesen, eine beklemmende Satire auf den Untergang des dekadenten Römischen Reiches. Und die Frage, die darin gestellt wird, habe ich nicht mehr vergessen: Wie wird unsere westliche industria­lisierte Hochkultur dereinst untergehen? In meiner Fantasie sah ich Atomkriege, islamistischen Terror und chinesische Allmachtsfantasien als Werkzeug teuflischer Mächte, die unsere Demokratie mit Krieg und Dik­tatur ausrotten. Und nun kommt alles ganz anders. Ein kleines Grippevirus, Corona, seit Jahrzehnten bekannt und jährlich für ca 10% der Common-cold-Erkrankungen verantwortlich, hat mutiert und ist nun etwas stärker geworden. Es fordert unter den über 80-Jährigen, v.a. solchen, die biologisch schon etwas älter sind, natürliche Todesfälle. Also genau jene Menschen, die das Glück hatten, alt zu werden und nicht jung sterben zu müssen, sind betroffen. Bei den Jungen gibt es einige, die das Pech hatten, in ihrem bisherigen Leben nie ­ein Coronavirus erwischt zu haben, und deshalb schwere Verläufe durchmachen, ähnlich einer Varizelle im Erwachsenenalter.
Ein aktivistisches lebensfremdes Leader-­Konglomerat aus Politikern, Epidemiologen, Virologen und Intensivmedizinern hat seinen Fokus auf jeden einzelnen Fall gelegt. Und sie sind zum Schluss gekommen: Da sterben tatsächlich Menschen! Leider kennen unsere Leader das Sterben nur als Niederlage, Tragik und Problem für die Wiederwahl, und nicht (wie ich als Hausarzt) auch als Ende einer erfüllten Geschichte.
Liebe Verschwörungstheoretiker, vergesst eure Theorien. Das ist keine Verschwörung, das ist nur Lebensferne, mangelndes Jasagen zu dem, dass die Natur manchmal stärker ist als der aktivistischste Politiker. Denn in dieser Krise wird materiell viel mehr verloren, weltweit, als gewonnen. Sogar die Chinesen ver­lieren viel. Aber wir, der demokratische, humanistische, empathisch mitschwingende Westen, verlieren noch viel, viel mehr.
Und somit machen wir es wie einst die Römer: Sie gaben ihre Leaderrolle an die Germanen ab, die sie wegen fehlender kultureller Leistungen belächelt haben. Wir geben unsere Leaderrolle ab an die Chinesen, die wir bis vor kurzem auch noch belächelt haben. Und wie bei den Germanen werden die Chinesen nicht etwa stärker, sie werden nur viel weniger verlieren als wir. Nicht in einem tragischen Krieg, sondern wegen eines medial inszenierten Grippevirus treten wir geschlossen und gemeinsam ab, vorerst ins zweite Glied.
Bisher haben in untergehenden Kulturen immer die Väter ihre gefallenen Söhne beklagt. Wir sind die erste Kultur, in der die Söhne klagen: Mein Vater ist 90-jährig. Er darf noch nicht sterben, wo doch unser Nachbar 95-jährig ist und noch topfit! Und dafür bezahlen die Söhne mit der finanziellen Zukunft ihrer Kinder.
Eigentlich wäre das schrecklich, wenn nicht zwei wundervolle Nebenwirkungen bestünden: Vielleicht können wir durch dieses friedliche Zurückgleiten ins zweite Glied einen Atomkrieg verhindern, und die Natur ist der ganz grosse Profiteur zur Stunde. Hoffen wir, dass beides sich nachhaltig bewahrheitet.
Unsere humanistische und demokratische Gesellschaft muss lernen, sich dem chinesischen Demokratieverständnis anzupassen. Das fällt uns aber leicht, denn aktuell ist die Demokratie in der Schweiz ja schon ausgehebelt. Wir beginnen zu üben. Alain der Grosse freut sich vorerst noch seiner Machtfülle.