Zeitkrug

Horizonte
Édition
2020/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18769
Bull Med Suisses. 2020;101(1920):661

Publié le 06.05.2020

Ich nehme meine Zeit als einen Krug:
in ihm ist, weil er leer ist, Platz genug
für grosse Steine mit verschiedenen Gewichten,
die wir bis hin zum Rande sorgsam schichten.
Und bald schon ist der Krug jetzt voll und schwer.
Doch nehme ich als nächstes Kiesel her
und schütte sie in all’ die vielen Lücken,
die noch verblieben zwischen grössern Stücken
und weiter Sand erschliesst die feinen Ritzen,
die immer noch als Raum dazwischen sitzen,
bis endlich Wasser, das die Steine eingehüllt,
zu guter Letzt den Krug erst wirklich füllt.
Doch hätte ich die Reihenfolge umgekehrt gewählt
und meine Zeit nach Kleinstem nur gezählt,
als Erstes Wasser in den Krug gegossen,
so wäre jeder Raum für Gröss’res ausgeschlossen.
Und nähm’ ich nur die grossen Steine her,
so blieben alle Zwischenräume leer,
die, wie in der Musik, im Leben
erst recht die Farbnuancen geben.
Ein jeder hat nur seinen Krug an Zeit –
das Leben legt ein Sortiment bereit,
aus dem er die Erlebnisse gewichtet,
die er dann derart in den Eimer schichtet,
dass nur, wenn er Gewichtiges für wichtig nimmt,
die Reihenfolge ihm das Endgewicht bestimmt.
Die rechte Ordnung in den Tausend Sachen
kann uns das Leben erst gewichtig machen.
Prof. Dr. med. Jürg ­Kesselring FRCP
Senior Botschafter und Neuroexperte
Rehabilitatioszentrum Kliniken Valens
Taminaplatz 1
CH-7317 Valens
juerg.kesselring[at]bluewin.ch