Juristische Deutung statt medizinisch fachlicher Diskussion und Differenzierung?

Briefe / Mitteilungen
Édition
2020/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18758
Bull Med Suisses. 2020;101(12):418

Publié le 17.03.2020

Juristische Deutung statt medizinisch fachlicher Diskussion und Differenzierung?

Der Rechtsanwalt Dr. iur. Marco Weiss stellt gegenüber ausländischen «Fluggutachtern» keine stichhaltigen Einwände fest. Dabei zeigt sich eine Problematik, welche sich in der Entwicklung der IV-Verfahren wiederholt zeigt: Juristen übernehmen Auslegung und Deutung, bevor eine differenzierte medizinische Diskussion geführt wurde.
In der Beurteilung psychiatrischer und psychosomatischer Störungen stellen deutsche Gutachterinnen per se tatsächlich kein Pro­blem dar. Es stellt sich generell die Frage der fachspezifischen Qualität von psychiatrischen Gutachterbeurteilungen. Die RELY-Studien I und II des versicherungsmedizinischen Instituts der Universität Basel haben aufgezeigt, dass die gutachterliche Beurteilung psychischer Störungen keine genügende Validität aufweist, dass die Interraterqualität ungenügend ausfällt. In der Studie wurde der Hauptpunkt der Übereinstimmung verschiedener Gutachter-Beurteilungen nicht erfüllt. Die Studienverfasser fragen deshalb, ob es eine gesellschaftliche Diskussion über das Ausmass an gewünschter Übereinstimmung unter Gutachtern brauche [1].
Zudem sollte auch die Einordnung sogenannter psychosozialer Belastungsfaktoren nicht den Juristinnen überlassen werden aufgrund mangelnder diagnostischer Differenzierung. Sonst werden aufgefundene soziale Faktoren pauschal als Belastungsfaktoren und als IV-fremd gewertet. Belastungsfaktoren sollten zwingend unter Berücksichtigung der Per­sönlichkeitsentwicklung und allfällig vorhandener Einschränkungen der psychischen Regulationsfähigkeit eingeschätzt werden. Dies bedarf jedoch der vertieften Kenntnis und Erfahrung in der Diagnostik und Behandlung von Persönlichkeitsfaktoren/-störungen, wie beispielsweise die operationalisierte psychodynamische Diagnostik einen Beitrag dazu leisten kann. Nur so kann unterschieden ­werden, ob Belastungsfaktoren als «versicherungsfremd» und damit rentenmindernd zu gelten haben oder nicht.
Wenn die Versicherungsmedizin von der Justiz zur Ausdifferenzierung und Qualitäts­verbesserung in den Rentenabklärungs­verfahren aufgefordert wird, ist dies ein wünschenswerter Prozess. Wenn stattdessen aber die Rechtsprechung Beurteilungen im medizinischen Fachbereich vornimmt, so entstehen Unklarheit und absurde hybride Konstrukte (juristische Diagnosekategorie Päusbonog [2], der juristische Krankheitsbegriff usw.), welche nur schwer wieder korrigiert werden können.
Wird die Unschärfe gutachterlicher Einschätzungen gegenüber IV-Juristen und Sozialversicherungsgerichten nicht deklariert, wirkt sich dies gegen die IV-Antragstellerinnen aus. Es braucht weitere medizinisch-fachliche ­Diskussionen, eine Weiterentwicklung der gutachterlichen Qualität und eine Ausdifferenzierung der IV-Rentenabklärungsprozesse unter stärkerer Gewichtung der Behandlerbeurteilung, um Antragstellerinnen eine faire Beurteilung zukommen zu lassen.
Ende Februar 2020 ist die Meldestelle zu IV-Gutachten des Dachverbandes Behindertenorganisationen Schweiz Incusion Handicap online gegangen. Behandelnde Ärztinnen und Patientinnen können Fälle von Fehlbeurteilungen melden auf https://www.inclusion-handicap.ch/de/themen/iv-gutachten-meldestelle-484.html