Eisentherapie: Es geht um Grundsätzliches in unserer Wissenschaft

Briefe / Mitteilungen
Édition
2020/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18757
Bull Med Suisses. 2020;101(12):420

Publié le 17.03.2020

Eisentherapie: Es geht um Grundsätzliches in unserer Wissenschaft

Zu Ihrem Brief bzgl. Eisentherapie möchte ich gerne Folgendes anmerken. Es geht nicht um Herrn Schaub, sondern um Grundsätzliches in unserer «Wissenschaft».
Nicht nur beim Eisen, auch in verschiedenen anderen medizinischen Bereichen herrscht Unklarheit, oder es werden Dinge behauptet, die ein «Dr. med.», wie Sie es nennen, nicht ­sagen sollte.
Einige Beispiele. Vitamin D3. Bis vor kurzem im Brustton der Überzeugung als etwas Ge­sichertes proklamiert, jetzt nach neuer Metaanalyse [1] nur noch falsch, bis auf Ausnahmen.
Strep-A-Angina: Es braucht keine Antibiotika[2]. Rheumatisches Fieber, Glomerulonephritis, Karditis, alles bedeutungslos. Seit Jahrzehnten bestehen deutliche Anhaltspunkte dafür, aber die axiomhafte Therapieempfehlung wurde beibehalten, wohl die Privatmeinung einer Koryphäe. Bilanz: einige Jahrzehnte Antibiotika-Therapie für nichts mit allen Implikationen. Wissenschaft?
Oder dann die Impferei. Impfen gilt axiomgleich per se als gut und richtig. Gemäss Cochrane-Daten [3] gibt es zum Beispiel wenig Evidenz über den Nutzen der Grippeimpfung. Ähnliche Bilanz des Arzneitelegramms [4] vor Jahren. Gepriesen wird die Impfung aber ganz anders. Bis dahingehend, wer sich nicht impfe, sei ein Verbrecher – so funktioniert Wissenschaft?
Dann die Antidepressiva. Wenn man Peter C. Gøtzsche [5] (und anderen) glauben mag, ist durch sie erheblicher Schaden anzunehmen bei weitgehender Wirkungslosigkeit. Gøtzsche als Mitbegründer der Cochrane-Bibliothek wäre einer der Ersten, denen man Unabhängigkeit attestieren wollte. Aber wer kennt nicht einen Patienten, der von einem Anti­depressivum in geradezu frappanter Weise Nutzen gezogen hatte? Ah! Ein Placebo-Effekt – wie beim Eisen halt.
Es liessen sich unzählige weitere Beispiel anführen. Die Verlogenheit der Studien – sofern man erneut Gøtzsche glauben darf – führt zu einer generellen Verunsicherung. Bezogen auf das Eisen: Was mache ich mit der Pa­tientin, die ab einem Ferritin von 150 nicht mehr depressiv ist? «Unwissenschaftlich» Eisen geben oder noch unwissenschaftlicher ein Antidepressivum? Eisenstudien können hierauf keine Antworten geben.
Wir kommen zum eigentlichen Thema: Unter anderem durch den Umstand, dass wir uns von Produzenten kaufen lassen, kommt es zu diesen Verzerrungen und ist das «autistische Denken» in der Medizin noch längst nicht überwunden. Ärzte halten sich gleichsam autistisch gedacht für unkäuflich [6] und lassen sich in grossem Stil durch Pharmaproduzenten umgarnen. Macht das ein «Dr. med.»?
Wir brauchen in keiner Weise Sponsoring. Die Sponsorengelder der Produzenten stammen über den Preis der Pharmazeutika auch aus den Sozialversicherungen. Bedeutend authentischer wäre es demnach, die Taxpunkte minimal (etwa 1 TP) zu erhöhen und dadurch alle Fortbildung (inkl. Mittagessen …) selbst zu bezahlen. Wir würden erheblich an Glaubwürdigkeit gewinnen und das autistische Denken fände die nachhaltige Grundlage, endlich zu verschwinden. Das sind wir unseren Patienten schuldig. Gleichsam könnte die unabhängige Forschung der medizinischen Institute derart finanziert werden.
Vielenorts in unserer wissenschaftlich scheinenden Medizin herrscht offensichtlich Unklar­heit. Wo dann die «Wahrheit» liegen könnte, ist schwer herauszufinden. Und das dürfte man zur Ehrenrettung von Herrn Schaub im gleichen Atemzug als «Dr. med.» ­erwähnen.
2 Swiss Medical Forum. 2019;19(29–30):481–8.
3 «Die vorbeugende Wirkung von parenteral verabreichten Totimpfstoffen bei gesunden Erwachsenen ist gering»; https://www.cochrane.org/de/CD001269/impfstoffe-zur-vorbeugung-gegen-grippe-bei-erwachsenen
«Die Wirkung von Grippeimpfstoffen auf ältere Menschen ist mässig, ungeachtet von Setting, Endpunkt, Population und Studiendesign»; https://www.cochrane.org/de/CD004876/impfstoffe-zur-vorbeugung-der-saisonalen-grippe-und-ihrer-komplikationen-bei-menschen-ab-65-jahren
4 Arznei-Telegramm a-t. 2008;39:101–2.
5 Peter C. Gøtzsche. «Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität – Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert»; oder Tages Anzeiger, 28.11.2019, S. 38, «Depression wird überdiagnostiziert», Interview mit Michael Hengartner.
6 Werbung wirkt, auch bei Ärzten! Schweiz Ärzteztg. 2009;90(38):1455–7.