Volker Thiel, Corona-Forscher und Professor für Virologie an der Universität Bern

«Das Unbekannte, das Unvorstellbare interessiert mich»

Horizonte
Édition
2020/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18755
Bull Med Suisses. 2020;101(12):441-443

Affiliations
Freier Journalist und Fotograf, Medientrainer, Bern

Publié le 17.03.2020

Wir treffen uns in einem Gebäude des Berner Tierspitals – im Institut für Virologie und Immunologie. Hier kommt man nur in Begleitung einer Fachperson rein. Warnschilder weisen darauf hin, dass in diesen Räumen mit infektiösem Material gearbeitet wird, Hinweistafeln mit Stichworten wie «Tierseuchen» oder «Tollwut» konkretisieren das mulmige Gefühl des Besuchers.

Die Erinnerung an Sars

Volker Thiel bewegt sich mit seiner Forschungsarbeit quasi an der Schnittstelle zwischen Veterinär- und ­Humanmedizin. «Wir arbeiten hier mit Erregern im Tier, mit Corona-Viren im Schwein beispielsweise. Aber wir befassen uns auch mit Zoonosen, also Infektionskrankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden können.» Das «Sars-Corona-Virus 2», das die Welt zurzeit in Hochspannung hält, gehört dazu.
Thiel interessierte sich schon in den neunziger Jahren für Corona-Viren. «Oft wurden wir schräg angeschaut, mussten wir uns damals anhören, dass wir besser mit relevanteren Viren arbeiten sollten.» Damals kannte man bloss zwei Formen, die Schnupfen verursachen können. 2003 aber kam Sars, und 2012 kam Mers dazu – beides Corona-Viren, die sich auf den Respirationstrakt von Menschen übertrugen und viele mit dem Tod bedrohten. «Beim Sars-Virus starben etwa 10 Prozent an den Folgen der Infektion. Beim neuen Corona-Virus – dem Sars-Virus sehr ähnlich – gehen wir zurzeit von ­einem Sterberisiko von rund einem Prozent aus. Aber: Das neue Virus breitet sich mehr und schneller aus. Letztlich wird der Gesamtschaden beim neuen Corona-Virus wohl grösser sein», erklärt Thiel.

Viel Unbekanntes

Viren sind enorm klein, mit dem Mikroskop nicht zu erkennen. «Ein Milliliter Meerwasser enthält eine ­Million Viren», erklärt Volker Thiel in gewohnt anschaulicher und damit verständlicher Art. Wie kommt einer dazu, sich ein Leben lang mit derart kleinen und gleichzeitig so bedrohlichen Dingen beschäftigen zu wollen? «Während meines Biologie-Studiums habe ich ein besonderes Interesse für molekulare Teilchen entwickelt», erzählt Thiel. «Der Rest war eher Zufall: Ein Virologe hatte Arbeit für mich, und dann ging es schon los mit den Corona-Viren.»
Apropos «bedrohlich»: «Es existiert unter Forschern auch eine Diskussion darüber, dass es Viren geben könnte, die dem Menschen nützen», sagt Thiel. Und damit auch, dass die Forschung über sein Spezialgebiet insgesamt noch wenig weiss.
So hat die jüngste Corona-Welle auch den Fachmann überrascht: «Damals, bei Sars, haben wir gedacht, so etwas passiere vielleicht alle 100 Jahre einmal.» Trotzdem habe sich das Wissen über Viren in den vergangenen Jahren vervielfacht. «Vor 10 Jahren erwähnten die Lehrbücher noch die klassischen paar Viren wie HIV, Hepatitis C, Polio oder eben die Corona-Viren, die für Schnupfen verantwortlich sind. Heute sind rund 1000-mal mehr ‘Arten’ bekannt. Erst nach und nach entdecken wir, was in der Natur so alles vorhanden ist. Was Viren jedoch tun, wissen wir nicht. Noch nicht. Wir gehen davon aus, dass sie nicht die Absicht haben, uns Menschen nachhaltig zu schaden. Sie benutzen uns nur als Wirt.»

Baupläne analysieren

Grosse Fortschritte hat in letzter Zeit die Sequenzier-Technologie gemacht. Volker Thiel erklärt dieses komplizierte Verfahren mit einfachen Worten so: «Jede unserer Zellen hat ein Genom – eine Abfolge von Buchstaben, sogenannte Basen. Viren haben auch ihren Bauplan. Und sie benutzen Zellen, um ihn zu verwirklichen. So vermehren sie sich. Mit der Sequenzier-Technologie können wir solche Baupläne innerhalb von Tagen analysieren, bestimmen.» Sind Viren denn Lebewesen? «Eine gute Frage, die wir auch an Prüfungen stellen», antwortet Thiel. «Sie brauchen immer eine Zelle, um sich vermehren zu können. Insofern sind Viren keine selbständigen Lebewesen. Aber: Es werden immer mehr Viren entdeckt, die Gene aufgenommen haben, die aus einer Zelle stammen – und die fast schon so gross sind wie Bakterien. Mit diesen Genen können die grossen Viren viele Prozesse, die sonst die Zellen für sie übernehmen, selbst durchführen. Sie sind also schon fast lebendig.»

Zur Person

Prof. Dr. Volker Thiel wurde 1966 in Augsburg (Deutschland) geboren. 1987 bis 1993 studierte er Biologie an der Universität Würzburg, wo er bis 2003 arbeitete. 2003 bis 2013 war er am In­stitut für Immunbiologie des Kantonsspitals St. Gallen tätig. 2008 habilitierte er an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Zürich. Seit 2014 ist er Professor für Virologie an der Universität Bern. Gleichzeitig leitet er die Abteilung Virologie des Instituts für Virologie und Immunologie. Das Institut mit Standort in Mittelhäusern und in Bern ist eine Forschungsanstalt, die dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen unterstellt ist. Es ist das einzige Hochsicherheitslabor der Schweiz, in dem hochansteckende Tierseuchen (wie z.B. Maul- und Klauenseuche oder Schweinepest) diagnostiziert und erforscht werden können. Volker Thiel ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.

Neue Gewohnheiten und ihre Folgen

Auf einem Gestell im Büro von Volker Thiel liegt ein Plüschkamel. Es wirkt sehr fremd in dieser Umgebung, hat aber einen direkten Zusammenhang zu den Inhalten, um die es hier geht: Eine Doktorandin hat es ihm 2012 geschenkt, als man das Mers-Virus in Kamelen in Saudi-Arabien entdeckte. «Für Kamele ist Mers wie eine Kinderkrankheit», erklärt Thiel. «Für Menschen ist es eine schwere Krankheit – und wir wissen nach wie vor nicht, warum.»
2003, als Sars die Welt bedrohte, reiste Volker Thiel zusammen mit anderen deutschen Wissenschaftern nach China. «Es war sehr eindrücklich», erinnert er sich. «Peking im Ausnahmezustand, alle Touristenattraktionen leer oder geschlossen, die Leute mit Schutzmasken. Vorab war ich schon etwas ängstlich. Aber als ich dort war, wurde mir bewusst: 8000 Fälle in einer Millionenstadt wie Peking, das ist nicht so schlimm.»
Und heute? Wie schlimm ist die Situation mit dem neuen Corona-Virus?
«Allein in China gehen wir heute (Stand: Anfang März) von über 70 000 bekannten Fällen aus, dazu kommt aber sicher eine sehr hohe Dunkelziffer. Aus der Ferne ist die Situation schwer zu beurteilen, aber ein gewisses Misstrauen bleibt. Nach Wuhan jedenfalls würde ich jetzt nicht reisen.» Und Wuhan ist ja bloss ein paar Flugstunden entfernt. «Wir profitieren wohl schon ­davon, wenn zurzeit keine Flugzeuge nach China fliegen», sagt Thiel.
Unsere Lebensweise, vor allem aber unsere Reisegewohnheiten hätten sich in einer Art verändert, die der Verbreitung von Viren entgegenkomme: «Wir haben Kontakte mit Viren, die wir früher nicht hatten, und wir sind so viel unterwegs, dass sich diese auch schneller übertragen können.»

Und die Schweiz?

Inzwischen ist das neue Corona-Virus auch in der Schweiz angekommen; der Bundesrat hat eine «besondere Lage» ausgerufen und Grossveranstaltungen verboten. Solange die Fallzahlen noch nicht in die Tausende gingen, seien solche Massnahmen geeignet, um die Ausbreitung des Virus zu drosseln, kommentiert Thiel. «Wichtig ist auch, möglichst viele Fälle frühzeitig zu erkennen und durch Quarantäne Infektketten zu unterbrechen.» Wie es langfristig weitergehe, sei schwer zu sagen, «aber wir müssen uns wohl darauf einstellen, noch eine Zeit mit diesem Virus zu leben. Allerdings gibt es aus heutiger Sicht für den Einzelnen Schlimmeres. Das Ebola-Virus zum Beispiel, das eine höhere Todesrate hat.» Und für die Gemeinschaft ­hätten die jährlichen Grippewellen, die vielfach zu mehr Infizierten führen, eine grössere Bedeutung, sagt Thiel. «Bezüglich ‘angemessener’ Massnahmen ist ­daher guter Rat teuer.»

Gesucht: Wirk- und Impfstoffe

«Corona» heisst «Krone» – das dekorative Bild, das ein Elektronenmikroskop von diesem Virus macht, führte zu diesem verwirrenden Adelstitel für den schädlichen Winzling. An der Wand über dem Tisch in Thiels Büro hängt ein farbiger Druck, der auch so dekorativ, ja ästhetisch wirkt. Dargestellt ist ein Lungenepithel mit ­Zellen, die Schleim produzieren, und solchen mit Flimmerhärchen, die ihn transportieren. Im Hochsicher­heitslabor züchten Volker Thiel und sein Team solche Epithele. «Wir stellen Schleimhäute her, infizieren sie mit dem Virus und versuchen herauszufinden, bei welchen Temperaturen sich diese Viren wie vermehren.» Grundlagenforschung also – mit dem Ziel unter anderem, einen Wirkstoff gegen das Virus zu entwickeln. «Wie schnell das geht, ist unter anderem eine Frage des Marktes», erklärt Thiel. Beim Hepatitis-C-Virus habe es funktioniert: «Nach 20 Jahren Forschungsarbeit und vielen investierten Millionen gibt es nun Medikamente, die helfen.» In der aktuellen Situation rund um das neue Coronavirus zeichne sich glücklicherweise ein Engagement der Industrie auch ab: «Es gibt Firmen, die ein Interesse an antiviralen Wirkstoffen, aber auch an entsprechenden Impfstoffen bekundet haben. Sie interessiert vor allem aber die Wirtschaftlichkeit.»

Der Zeit voraus sein

Volker Thiel interessiert sich auch für das, was ist. Beispielsweise schätzt er es, an Wochenenden im Garten seines Hauses am Bodensee zu arbeiten. Ganz praktisch, mit den Händen. Immer aber versucht er gleichzeitig einen offenen Blick für das «Dahinter» zu bewahren. «Wir Forscher wollen Neues entdecken. Und Hypothesen benötigen Vorstellungskraft.»
Deshalb liest der Virologie-Professor in seiner Freizeit gerne Science-Fiction-Romane. «Das Unbekannte, das Unvorstellbare interessiert mich.» Dies übrigens unterscheide vielleicht seine Forschung von derjenigen eines Mediziners: «Mediziner benötigen immer den praktischen Bezug. Ihre Forschung muss sich recht­fertigen, muss Relevanz nachweisen können. Ich kann auch nur deshalb forschen, weil ich an der Biologie, an einem Mechanismus interessiert bin.»
Wie seinerzeit, als er begann, sich mit Corona-Viren zu beschäftigen. Und dafür schräg angeschaut wurde.
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