Empfehlungen zur Suizidprävention bei Klinikaustritten

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Édition
2020/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18632
Bull Med Suisses. 2020;101(09):289-291

Affiliations
MSc Psychologie, MPH, Projektleitung Suizidprävention, Sektion Nationale Gesundheitspolitik, Bundesamt für Gesundheit BAG

Publié le 26.02.2020

Personen in psychiatrischen Einrichtungen sowie nach dem Austritt sind besonders suizidgefährdet. Deshalb hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zusammen mit weiteren Akteurinnen und Akteuren Empfehlungen für Gesundheitsfach­personen erarbeitet [1]. Sie sollen dazu beitragen, dass Patientinnen und Patienten den stationär-ambulanten Übergang als verzahnten Behandlungspfad erleben und «sicher» in ihrem Alltag ankommen.
Hinter jedem Suizidversuch und jedem Suizid steckt eine persönliche Geschichte: manchmal ein langer Leidens­weg, manchmal eine kurzfristige Krise. Die Hintergründe und Ursachen sind meist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren.
Aktuell nehmen sich in der Schweiz täglich zwei bis drei Personen das Leben. Laut Hochrechnungen werden pro Tag 20–30 Personen nach Suizidversuchen medizinisch versorgt. Die Dunkelziffer ist aber hoch. Jährlich ist in der Schweizer Bevölkerung von rund 33 000 Suizidversuchen (selbstberichtet) auszugehen [2]. Die Bedeutung des Themas ergibt sich aber nicht allein aus den Zahlen. Suizid und Suizidversuche im stationären und unmittelbaren poststationären Bereich sind mit schweren Leiden, Hoffnungslosigkeit, Isolation und Verzweiflung verbunden und stellen sowohl für Betroffene und Angehörige als auch für betreuende Ärztinnen und Ärzte eine schwere Belastung dar.
Broschüre
Die Empfehlungen «Suizid­prävention bei Klinikaustritten» sind als PDF-Version oder als gedruckte Broschüre gratis erhältlich.
Mehr Informationen unter: bag.admin.ch/
suizidpraevention → Suizidprävention in der psychiatrischen Versorgung.
«Jeder Suizid, der verhindert werden kann, ist ein Erfolg, weil es in den meisten Fällen nicht zu einem späteren Suizid kommt. Gleichzeitig müssen wir wissen, dass ein Suizidversuch ein Risikofaktor für weitere Suizidversuche bedeutet», sagt Julius Kurmann, Chefarzt Stationäre Dienste, Luzerner Psychiatrie. Wichtig sei daher, sagt Kurmann weiter, dass suizidgefährdete Menschen und Menschen nach Suizidversuchen bedarfsgerecht, zeitnah und spezifisch betreut und behandelt würden. Dazu brauche es unter anderem wirksame Nachsorgeinterventionen, bekräftigt Kurmann.

Gemeinschaftliche Initiative im Rahmen des Aktionsplans Suizidprävention

Um die Problematik der Suizide und Suizidversuche während und nach Aufenthalten in der Psychiatrie aufzugreifen und präventiv vorzugehen, hat das BAG 2018 im Rahmen des Nationalen Aktionsplans Suizidprävention das Projekt ­«Suizidprävention während und nach Psychiatrieaufenthalt» [4] initiiert. An der gemeinschaft­lichen Initiative waren Akteure an der Schnittstelle des stationär-ambulanten Übergangs ­beteiligt. Die Projektbeteiligten sahen den stationär-ambulanten Übergang als vordringlichstes Handlungsfeld der Suizid­prävention bei einem Klinik­aufenthalt. Kernstück des Projekts bildet daher die Broschüre ­«Suizidprävention bei Klinikaustritten. Empfehlungen für Gesundheitsfachpersonen» [1]. Sie ist 2019 entstanden als gemeinsame Publikation des BAG, der Schweizerischen Kon­ferenz der kantonalen Gesundheits­direktorinnen und -direktoren GDK sowie mit weiteren Entscheidungs­trägern, Fachgesellschaften und Dachorganisationen, die bei Klinikaustritten eine wichtige Funktion übernehmen.
In der Publikation sind sieben Empfehlungen zu finden sowie Hinweise zu konkreten Praxisbeispielen.
Die Publikation richtet sich in erster Linie an Leitungsgremien und Führungskräfte in psychiatrischen Kliniken und ihre Mitarbeitenden sowie an Gesundheitsfachpersonen, die Patientinnen und Patienten nach einem Psychiatrieaufenthalt weiterbehandeln.

Der Klinikaufenthalt als vulnerable Phase

Betroffene weisen während eines Psychiatrieaufenthalts sowie unmittelbar nach Austritt ein massiv höhe­res Suizidrisiko auf als in der Allgemeinbevölkerung. Dies bestätigt eine Analyse verschiedener Studien zu Suiziden und Suizidversuchen, die im Rahmen des Projektes «Suizidprävention während und nach Psychia­trieaufenthalt» durchgeführt wurde. In einer systematischen Literaturrecherche [3] der Stiftung Dialog Ethik wurden 193 relevante Artikel und Sammelbandbeiträge, die zwischen 2008 und 2018 erschienen sind, ausgewertet.
Die Literaturrecherche gibt zudem Hinweise auf Ursachen und Risikofaktoren von Suiziden bzw. Suizidversuchen während und nach dem Psychiatrieaufenthalt. Diese werden in den folgenden Abschnitten auszugsweise dargestellt.
Einleitend muss festgehalten werden, dass das erhöhte Suizidrisiko während eines Klinikaufenthalts nicht unmittelbar vom Setting der Psychiatrie verursacht wird. Es stellt vielmehr einen auslösenden Faktor dar – beispielsweise infolge von Stress oder Druck. Die Ursache für den Zusammenhang zwischen Suizidrate und Klinikaufenthalt liegt vorwiegend in den individuellen Krankheitsbildern der Patientinnen und Patienten.
In den untersuchten Studien ist jedoch festzustellen, dass die Versorgungsbedingungen während der stationären Unterbringung das Risiko für einen Suizid oder einen Suizidversuch beeinflussen können. Die Beziehungs- und Betreuungsaspekte zu den Gesundheitsfachpersonen gelten dabei als besonders wichtige ­Einflussfaktoren. Weitere Faktoren sind: mangelnde Intensivbetreuung, Fehleinschätzung des Suizidrisikos, ungenügende Kommunikation innerhalb des Behandlungsteams, Veränderungen der psychosozialen Angebote sowie nicht ausreichender oder therapie­unwirksamer Kontakt zum Behandlungsteam.

Suizidprävention beim stationär-­ambulanten Übergang

Die Entlassung aus einer Klinik birgt das Risiko von Versorgungsbrüchen. Die erste Woche nach der Einweisung in die Psychiatrie sowie die ersten zwei Wochen nach der Entlassung sind bezüglich Suiziden und Suizidversuchen besonders kritisch. Betroffene verlieren die gewohnten Strukturen und müssen sich im ­Alltag neu zurechtfinden. Fehlt hier die nötige Unterstützung, kann dies zu einer Überforderung der Betroffenen (und ihren Angehörigen) führen. Eine fehlende professionelle Betreuung, aber auch fehlende Ansprechpersonen im persönlichen Umfeld können das Risiko für einen Suizid oder einen Suizidversuch entsprechend erhöhen.
Umso wichtiger ist es, dass im Rahmen des Entlassungsmanagements eine frühzeitige und systematische Nachversorgung durch Assessments sowie Beratungs-, Schulungs- und Koordinationsleistungen zur Suizidprävention stattfindet. Die Literaturrecherche ergab, dass jene Patientinnen und Patienten, die eine adäquate ambulante Nachsorge erhalten, seltener Suizidversuche unternehmen oder Suizid begehen.

Konkrete Empfehlungen für Gesundheitsfachpersonen

Wie die Erkenntnisse aus der Literaturrecherche gezeigt haben, ist eine wirksame Nachsorgeintervention beim stationär-ambulanten Übergang zentral, um Rückfälle nach Suizidversuchen und nach Klinikaustritten zu verhindern.
Im Folgenden werden die Empfehlungen «Suizid­prävention bei Klinikaustritten» [1] aufgeführt und kurz erläutert. Die vollständigen Ausführungen sind als PDF-Version oder als gedruckte Broschüre gratis erhältlich (Informationen unter www.bag.admin.ch/suizidpraevention → Suizidprävention in der psychiatrischen Versorgung).
1. Beim stationär-ambulanten Übergang das Suizidrisiko einschätzen und das entsprechende Risikomanagement gewährleisten.
Beim Einschätzen des Suizidrisikos gilt es, alle relevanten Informationen und Faktoren inkl. der psychosozialen Situation im Alltag der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen.
2. Angehörige oder Vertrauenspersonen beim stationär-ambulanten Übergang einbeziehen.
Angehörige zu befähigen und zu beraten ist ein zentraler Aspekt der Suizidprävention. Stimmen Patientinnen und Patienten dem Einbezug nicht zu, sind Angehörige auf entsprechende Angebote hinzuweisen.
3. Vor Austritt eine ambulante Nachsorge einrichten – verbindlich und zeitnah.
Frühzeitig vor dem Austritt soll ein zeitnaher Termin bei der nachbehandelnden/-betreuenden Fachperson vereinbart werden. Idealerweise innerhalb einer Woche. Es bietet Sicherheit, wenn sich Patientinnen und Patienten und nachbehandelnde/-betreuende Fachperson vor dem Austritt einmal sehen oder hören.
4. Vor Austritt eine Brückenkonferenz durchführen.
An einem Rundtischgespräch stimmen sich Patientinnen und Patienten mit ihren Angehörigen und Fachpersonen vor Klinikaustritt ab.
5. Vor oder nach Austritt eine Brückenhilfe einrichten.
Ein begleiteter Besuch im privaten Lebensumfeld der Patientin / des Patienten organisieren. Als Begleitpersonen bieten sich Bezugspersonen des sta­tionären Aufenthalts oder der ambulanten Nachsorge an. Durch die Intervention zu Hause sollen Probleme mit der Alltagsbewältigung, aber auch ­Suizidmöglichkeiten angesprochen und wenn möglich minimiert werden.
6. Spätestens vor Austritt künftige potentielle suizidale Krisen besprechen und Massnahmen zur Vorbeugung suizidaler Krisen erarbeiten.
Um künftige suizidale Krisen auffangen zu können, gibt es unterschiedliche Instrumente, die sich kombinieren lassen. Die Möglichkeiten sind gemeinsam mit Patientinnen und Patienten zu diskutieren, im Sinne der gemeinsamen Entscheidungsfindung (Shared Decision Making) und der gesundheitlichen Vorausplanung (Advance Care Planning).
7. Gewährleisten, dass Gesundheitsfachpersonen des stationären und des ambulanten Settings fachlich in der Suizidprävention «up to date» sind, und berufliche Rahmenbedingungen schaffen, damit Suizidprävention «gelebt» werden kann.
Wissen über Suizidprävention kann unterschiedlich vermittelt und gelebt werden, Gesundheitsfachpersonen müssen es aber kontinuierlich auffrischen.

Suizidprävention als Herausforderung und Chance

Verschiedene Instrumente helfen bei der Beurteilung des Suizidrisikos sowie zur Intervention bei erhöhtem Suizidrisiko. Eine absolute Zuverlässigkeit im Rahmen der stationären psychiatrischen Versorgung gibt es jedoch nicht. Suizidprävention ist für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung.
Die klinische Praxis erfordert daher eine kontinuier­liche und ganzheitliche Einschätzung der Suizidalität bei psychiatrisch hospitalisierten Patientinnen und Patienten als Voraussetzung für eine adäquate Prävention. Diese Einschätzung, die Pflege und die Betreuung suizidaler Patientinnen und Patienten gehören zu den schwierigsten zwischenmenschenschlichen und fachlichen Herausforderungen in der psychiatrischen Arbeit.
Die sieben Empfehlungen sollen Gesundheitsfachpersonen darin unterstützen, die Problematik der Suizide und Suizidversuche während und nach Aufenthalten in der Psychiatrie aufzugreifen und präventiv anzugehen.

Das Wichtigste in Kürze

• Klinik- bzw. Patientensuizide sind ein ernst zu nehmendes Problem während und nach einem Psychiatrieaufenthalt.
• In der ersten Woche nach der Aufnahme und in der ersten Woche nach der Entlassung ist die Suizidrate am höchsten.
• Die Versorgungsbedingungen während der stationären Unterbringung beeinflussen das Suizidrisiko.
• Eine wirksame Nachsorgeintervention kann dazu beitragen, Rückfälle nach Klinikaustritten zu verhindern.
• Die Broschüre mit Empfehlungen zur «Suizidprävention bei Klinikaustritten» fokussiert deshalb den stationär-ambulanten ­Übergang und richtet sich in erster Linie an Leitungsgremien und Führungskräfte in psychiatrischen Kliniken sowie an Gesundheitsfachpersonen, die Patientinnen und Patienten nach einem Psychiatrieaufenthalt weiterbehandeln.

L’essentiel en bref

• Les suicides en milieu hospitalier, c.-à-d. de patients, sont un problème grave pendant et après un séjour en établissement psychiatrique.
• C’est au cours de la première semaine suivant l’admission et de la première semaine suivant la sortie que le taux de suicide est le plus élevé.
• Les conditions de soins pendant l’hospitalisation influent sur le risque de suicide.
• Une intervention de suivi efficace peut aider à prévenir les rechutes après la sortie de clinique.
• La brochure de recommandations «Prévention du suicide après un séjour hospitalier» se concentre donc sur la transition entre le séjour hospitalier et le suivi ambulatoire et s’adresse principalement aux organes de direction et aux cadres des cliniques psychiatriques, ainsi qu’aux professionnels de santé qui suivent les patients après un séjour en établissement psychiatrique.
Die Autorin erklärt keine Interessenverbindungen in Zusammenhang mit dem vorliegenden Manuskript.
Esther Walter
Eidgenössisches Departement des Innern EDI
Bundesamt für Gesundheit BAG
Direktionsbereich Gesundheitspolitik
Schwarzenburgstrasse 157 CH-3003 Bern
esther.walter[at]bag.admin.ch
1 Suizidprävention bei Klinikaustritten. Empfehlungen für Gesundheitsfachpersonen. Bundesamt für Gesundheit und Projektgruppe Suizidprävention bei Klinikaustritten; 2019.
2 Peter C, Tuch A. Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung. Obsan Bulletin 7/2019. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium: Neuchâtel; 2019.
3 Gregorowius D, Huber H. Literaturrecherche zu Suiziden und Suizidversuchen während und nach Psychiatrieaufenthalt: Schlussbericht. Bericht der Stiftung Dialog Ethik zum Projekt im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG): Bern und Zürich; 2018.
4 Nationaler Aktionsplan Suizidprävention. www.bag.admin.ch/suizidpraevention → Suizidprävention in der psychiatrischen ­Versorgung [7.1.2020].