Eine Entgegnung auf «Verwirrungen und Klärungen um den TARDOC – eine Auslegeordnung»

Die Nachricht vom Tod des Rahmenvertrags TARMED ist verfrüht

Tribüne
Édition
2020/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18594
Bull Med Suisses. 2020;101(10):346-347

Affiliations
Prof. Dr. iur., LL.M (Columbia Law School N.Y.), Rechtsanwalt

Publié le 03.03.2020

In der SÄZ-Ausgabe Nr. 44 (2019) stellen Poledna, Trümpler und Werder die These auf, der Rahmenvertrag ­TARMED sei «eigentlich schon längstens dahingefallen» [1]. Es ist zwar nicht ganz klar, ob die Autoren ernsthaft die Meinung vertreten, der TARMED-Vertrag existiere nicht mehr. Allerdings sind sie der Auffassung, dass sich die Kündigung des Rahmenvertrags TARMED als Voraussetzung der Einführung des TARDOC eigentlich erübrige. Damit wenden sich diese Autoren vor ­allem gegen eine anders lautende Auffassung von ­santésuisse. Hauptargument der Autoren ist, dass mit den Tarifinterventionen des Bundesrats in vertrags­wesentliche Bestimmungen des Rahmenvertrags eingegriffen worden sei und es damit für dessen Weiterführung an einem vertragsnotwendigen Konsens der Parteien fehle. Die Eingriffe in die Tarifstruktur als vertragswesentlicher Bestandteil des Rahmenvertrags TARMED führen nach dieser Auffassung also dazu, dass der gesamte Rahmenvertrag dahinfällt. An die Stelle des Konsenses der Vertragsparteien tritt dem­gemäss die staatliche Anordnung.
Diese Auffassung wird der Rolle des Rahmenvertrags und der Breite seiner Regelungen nicht gerecht. Dieser besteht aus dem eigentlichen Vertrag, aber auch aus ­diversen Anhängen, welche dessen integrierenden Bestandteil bilden und auf Bundesebene diverse Fragen des gemeinsamen Interesses der Tarifpartner regeln. An den Rahmenvertrag knüpfen ferner Abmachungen auf kantonaler Ebene an, insbesondere die kantonalen Anschlussverträge, welche die Bestimmungen des Rahmenvertrags im Detail ausführen, wie z.B. die paritätischen Kommissionen mit wichtigen Zuständig­keiten bei Streitigkeiten zwischen Ärzten und Versicherern, die Art der Abrechnung, die Stellung der Vertrauensärzte und schliesslich – ganz zentral – der kantonale Taxpunktwert und das Verfahren, mit welchem die Parteien diesen bestimmen wollen. Alle diese Vereinbarungen auf Bundesebene und in den Kantonen setzen die Geltung des Rahmenvertrags voraus und fallen ohne diese schlicht dahin, existieren also nicht mehr. Der Rahmenvertrag ist damit weit mehr als eine Tarifstruktur­regelung. Er ist die Grundlage einer umfassenderen Gestal­tung diverser Rechtsbeziehungen zwischen der Ärzteschaft und den Versicherern, welche zwar in den letzten Jahren als Folge tiefgreifender Meinungsdivergenzen gelitten hat, aber deswegen nicht rechtlich aus­ser Kraft gesetzt worden ist. Es ist denn auch bezeichnend, dass die Vertragsparteien des Rahmenvertrags bis jetzt immer noch von der Geltung des Rahmenvertrags ausgehen. So wurden in einigen Kantonen in jüngster Zeit die Anschlussverträge gekündigt, womit mittelbar zum Ausdruck gebracht wurde, dass der Rahmenvertrag weiterhin anzuwenden ist, denn würde dieser nicht mehr gelten, wäre auch keine Kündigung erforderlich. Wenn die Vertragsparteien selber von der Weitergeltung ausgehen, dürfte es schwierig sein zu behaupten, der Vertrag existiere nicht mehr. Ganz offensichtlich wollen die Parteien trotz bundesrätlichen Tarifeingriffen und trotz Kündigungen auf der kantonalen Ebene am Rahmenvertrag und den damit zusammenhängenden Regelungen festhalten, wohl auch um ein rechtliches Vakuum in verschiedenen Fragen von gemeinsamem Interesse zu vermeiden, so z.B. bei den vereinbarten Taxpunktwerten.
Zwar bezeichnet der Rahmenvertrag die Tarifstruktur als wesentlichen Vertragsbestandteil, aber nur unter ­einem sehr limitierten Gesichtspunkt: Er musste bei der seinerzeitigen Genehmigung des Rahmenvertrages durch die zuständigen Organe der Parteien, also von santésuisse und FMH, als vom Bundesrat genehmigte Tarifstruktur vorliegen. Die Parteien schlossen damit eine Genehmigung des Rahmenvertrags durch ihre eigenen Organe ohne Vorliegen einer bundesrätlich genehmigten Struktur aus. Dies überrascht angesichts der zentralen Bedeutung der Tarifstruktur für die Gestaltung der Beziehungen zwischen der Ärzteschaft und den Versicherern nicht. Dasselbe galt aber auch für weniger zentrale Abmachungen wie z.B. für die Vereinbarung zur Kostenneutralität, die Dignitätsregelungen und die Regelung über die Diagnose bzw. die Dia­gnosecodes. Demgegenüber wurden andere Anhänge zum Rahmenvertrag nicht als derart wesentlich betrachtet, so z.B. die Regelung über Qualitätserfor­dernisse und WZW-Kriterien oder die Vereinbarung betreffend die gemeinsame Paritätische Interpreta­tionskommission PIK.
Keine dieser Vereinbarungen und Regelungen ist derart wesentlich, dass ihr Dahinfallen, z.B. wegen einer separaten Kündigung, zu einer Beendigung des gesamten Rahmenvertrags führen würde. Dies gilt auch für die eigentliche Struktur. Einzelleistungstarife setzen gesetzlich bekanntlich ja eine solche, gesamtschweizerisch vereinbarte einheitliche Tarifstruktur voraus. Seit jeher hat der Bundesrat sodann die Zuständigkeit, die Tarifstruktur festzulegen, wenn sich die Tarifpartner nicht einigen können. Seit 2013 hat er ferner die Möglichkeit, Anpassungen an der Tarifstruktur vorzunehmen, wenn diese sich als nicht mehr sachgerecht erweist und sich die Parteien nicht auf eine Revision einigen können. Dies hat er zwei Mal gemacht, 2014 und 2018. Diese Interventionen hatten hierbei jeweils die Gestalt gesetzlicher Anpassungen der vom Bundesrat genehmigten, d.h. zwischen den Tarifpartnern ­vereinbarten Struktur und dere­n Anpassungen. Für die nicht dem Rahmenvertrag angeschlossenen Leistungserbringer und Versicherer wurde die gesetzlich modifizierte Struktur als gesamtschweizerisch einheitliche Tarifstruktur festgelegt. Insoweit hat der Bundesrat die vertraglich vereinbarte Tarifstruktur nicht einfach aufgehoben. Sie existiert weiter. Auch dies spricht eindeutig gegen ein automatisches Dahinfallen des Rahmenvertrags. Vielmehr wird man feststellen müssen, dass der Bundesrat im Bereich der Tarifstruktur schon immer eine entscheidende Rolle gespielt hat, sei es als Genehmigungs- oder Festsetzungsbehörde, sei es seit 2013, unter bestimmten Voraussetzungen, auch als interventionsbefugte Instanz. Nur weil er diese Rolle wahrgenommen hat, fällt nicht gleich der ganze Rahmenvertrag dahin. Sonst würde man praktisch dem Bundesrat die Macht geben, nicht nur über die Tarifstruktur, sondern über den Rahmenvertrag und die damit verbundenen Regelungen auf nationaler und kantonaler Ebene zu bestimmen. Dies wollten weder der Gesetzgeber noch der Bundesrat, noch wollten und wollen dies die Tarifpartner. Vielmehr liegt es an Letzteren zu entscheiden, ob die bundesrätlichen Interventionen derart bedeutsam sind, dass der gesamte Rahmenvertrag mit den damit verbundenen weiteren Regelungen dahinfallen soll. Sie können dies gemeinsam oder einzeln auf dem Weg der Kündigung. Aber letztlich sollen und können dies nur sie als Vertragsparteien bestimmen.
Was bedeutet dies für den TARDOC? Dieser soll – so das Ziel der Tarifpartner – als neuer Einzelleistungstarif den TARMED ablösen. Damit stellt sich auch hier die Frage, was mit dem Rahmenvertrag TARMED ­geschieht, wenn und falls TARDOC kommt. Kaum vorstellbar ist das gleichzeitige Nebeneinander zweier ­Tarifstrukturen im ambulanten Bereich, also weiterhin des TARMED zwischen den Leistungserbringern und santésuisse bzw. tarifsuisse, und des TARDOC zwischen den Leistungserbringern und curafutura.1 Denn dies dürfte mit der Idee einer gesamtschweizerisch einheitlichen Struktur im ambulanten Bereich nicht vereinbar sein.2 Dies bedeutet indes, dass der TARDOC kaum nur als genehmigter Tarif zwischen den Tarifpartner in Kraft tritt, sondern auch als festgesetzter, nämlich für die am TARDOC-Vertrag nicht direkt beteiligten Leistungserbringer und Ver­sicherer, allen voran voraussichtlich santésuisse bzw. t­arifsuisse. Wenn dies geschieht, muss man sich in der Tat die Frage stellen, ob der Rahmenvertrag TARMED noch gilt, denn diesfalls ist keine bestehende Tarifstruktur hoheitlich modifiziert worden, sondern eine neue Struktur geschaffen worden. Und damit ist in der Tat ein zentraler Pfeiler des bisherigen Vertragsregimes weg­gebrochen, wie nur schon die Bezeichnung «Rahmen­vertrag ­TARMED» zeigt. Unter diesen Umständen kann man dann die Auffassung vertreten, dass dieser Vertrag ­dahingefallen ist. Doch dies ist einstweilen Zukunfts­musik.

Das Wichtigste in Kürze

• Der Rahmenvertrag TARMED ist die Grundlage diverser Rechtsbeziehungen zwischen Ärzteschaft und Versicherern. TARDOC soll diesen als neuer Einzelleistungstarif ablösen.
• Seit 2013 hat der Bundesrat die Möglichkeit, zu intervenieren, wenn sich die Vertragspartner nicht auf eine Revision der Tarifstruktur einigen können. Dass der Bundesrat seine Interventionsbefugnis wahrgenommen hat, bedeutet aber laut dem Autor nicht, dass TARMED «eigentlich schon längstens dahingefallen» sei.
• Einzig die Tarifpartner sind imstande zu entscheiden, ob der gesamte Rahmenvertrag mit den damit verbundenen Regelungen aufgelöst werden soll. TARMED als abgeschafft zu bezeichnen ist also verfrüht.

L’essentiel en bref

• La structure tarifaire TARMED est la base de plusieurs liens juridiques entre le corps médical et les assureurs. Le TARDOC doit le remplacer en tant que nouveau tarif à la prestation.
• Depuis 2013, le Conseil fédéral a la possibilité d’intervenir si les parties contractantes ne parviennent pas à se mettre d’accord sur une révision tarifaire. Selon l’auteur, le fait que le Conseil fédéral soit intervenu ne signifie toutefois pas que TARMED «est non valable depuis longtemps».
• Seuls les partenaires tarifaires sont en mesure de décider si l’ensemble de l’accord-cadre avec les règlements associés doit être dissous. Il est donc prématuré de dire que TARMED est abrogé.
Prof. Dr. iur., LL.M. Urs Saxer
Steinbrüchel Hüssy
Rechtsanwälte
Grossmünsterplatz 8
CH-8001 Zürich
Saxer[at]steinlex.ch
1 Werder G, Poledna T, Trümpler R. Verwirrungen und Klärungen um den TARDOC – eine Auslegeordnung. Schweiz Ärzteztg. 2019;100(44):1470–2.