Ärztliche Akutversorgung der Leichten Traumatischen Hirnverletzung

Tribüne
Édition
2020/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18441
Bull Med Suisses. 2020;101(07):227-229

Affiliations
a Prof. Dr. med., Facharzt für Neurologie, Mitglied FMH, zertifizierter Gutachter SIM, Master of Advanced Studies in Versicherungsmedizin (Universität Basel), Master of Business Administration (London Business School), Master of Science in Sport and Exercise Science and Medicine (Online Distance Learning, University of Glasgow), Chefarzt RehaClinic Limmattal und RehaClinic Sonnmatt Luzern; b Dr. med., Facharzt für Neurologie, Mitglied FMH, Master of Advanced Studies in Versicherungs­medizin (Universität Basel), Leiter Fachgruppe Neurologie, Versicherungsmedizin Suva

Publié le 11.02.2020

Die Leichte Traumatische Hirnverletzung (LTHV), die häufigste Form traumatischer Hirnverletzungen, erfordert eine leitlinienbasierte Diagnostik und Therapie. Ein elek­tronisch bearbeitbares Formular mit dem Titel «Erstdiagnostik/Erstdokumentation für Erwachsene LTHV» von Suva und SVV unterstützt leitliniengerechtes Management.
Die Leichte Traumatische Hirnverletzung (LTHV, syn­onym: Mild Traumatic Brain Injury, früher Commotio cerebri) ist eine biomechanisch induzierte, komplexe neuronale Funktionsstörung des Gehirns [1]. Der von Sportmedizinern geprägte Begriff Concussion [2, 3] wird zwar auch für leichtere Formen von Kopfverletzungen benutzt, ist jedoch nicht vollkommen synonym anzuwenden [4], da er weiter definiert ist und beispielsweise otoneurologische und muskuloskelettale Beschwerden berücksichtigt.
Die LTHV ist deshalb von besonderer Bedeutung, da sie die mit Abstand am häufigsten vorkommende Form alle­r traumatischen Hirnverletzungen ist. Nach einer LTHV beklagen 10–15% der Betroffenen überdauernde Beschwerden.
Gemäss der Statistik der Sammelstelle für die Statistik der Unfallversicherung (SSUV) betrifft sie im Kollektiv der UVG-Versicherten der Schweiz ca. 12 400 Personen pro Jahr [5]. Hochgerechnet auf die gesamte Bevölkerung der Schweiz entspricht dies etwa 25 000 Fällen pro Jahr und einer jährlichen Inzidenz von etwas mehr als 300 Fällen/100 000 Einwohner. Es handelt sich also um ein relativ häufiges Störungsbild, welches in den Sprechstunden der Notfallversorger regelmäs­sig diagnostiziert wird.

Diagnosestellung

Die LTHV wird klinisch diagnostiziert [1, 6]. Die Sym­ptomatik in der Akutsituation besteht häufig aus kurzzeitigen qualitativen Bewusstseinsstörungen. Hierzu gehören ein Gefühl der Benommenheit, Gedächtnisstörungen, die das Ereignis selbst, die unmittelbare Zeit danach, den situativen Kontext oder autobio­graphische Aspekte betreffen und in den beiden letzt­genannten Fällen mit Verhaltensauffälligkeiten der Betroffenen einhergehen. Die Subkategorien 1 bis 3 der LTHV werden in Abhängigkeit vom erhobenen Glasgow Coma Score (GCS) sowie definierter Risikofaktoren, nämlich «minor risk factor» und «major risk factor» nach der CHIP(CT in Head Injury Patients)-Regel [7], eingeteilt. Die Abgrenzung zu höhergradigen Hirnverletzungen erfolgt klinisch mittels des GCS, der bei der LTHV nicht unter 13 liegen darf.
In der Akutsituation oder noch in den ersten Tagen nach dem Ereignis treten häufig Kopfschmerzen, Schwindel, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Störun­gen im Schlaf-wach-Rhythmus und emotionale Störungen auf [8].

Leitlinien zur LTHV

In der Akutphase zielen die medizinischen Massnahmen darauf ab, das weitere Management für die Verunfallten festzulegen. Je nachdem, ob es sich hierbei um die ärztliche Versorgung in einem medizinischen Setting oder um die Betreuung eines Sportlers im Rahmen ­einer Sportveranstaltung handelt, unterscheiden sich die internationalen Leitlinien in Bezug auf Zielsetzungen, diagnostische Kriterien und Empfehlungen. Für die Schweiz wurde im Jahr 2010 in Absprache mit den medizinischen Fachgesellschaften die Verwendung der auf die Schweiz adaptierten Leitlinien der Europäischen Föderation Neurologischer Gesellschaften (EFNS), heute European Academy of Neurology (EAN), im medizinischen Kontext empfohlen [9].
Seitens der schweizerischen Unfallversicherer wurden die Empfehlungen 2016 in einzelnen Aspekten revidiert [10] und 2018 nochmals nach Rücksprache mit ­einer interdisziplinären Arbeitsgruppe in einzelnen Formulierungen präzisiert und auf der Homepage der Suva und des SVV zur Verfügung gestellt [11, 12].
Die Empfehlungen zur Diagnose und Therapie fokussieren inhaltlich auf die zwei für die medizinische Akutversorgung wesentlichen Aspekte, nämlich die Erkennung von potentiell operationsbedürftigen Komplikationen und die Reduktion des Chronifizierungsrisikos.

Formular zum Download

Das Formular «Dokumen­tationsbogen und Entscheidungsalgorithmus für die Erstversorgung von Erwachsenen mit einer Kopfverletzung modifiziert nach der CHIP Regel, Smits et al. 2007» finden Sie online im Downloadbereich dieses Artikels (Archiv → Ausgabe 7/2020).

Leitlinienbasiertes Vorgehen in der Akutversorgung

Bei Verunfallten, die sich nach einer LTHV im Spital vorstellen, wird mit einer Häufigkeit zwischen 5 und 8% eine intrakranielle Verletzung im kranialen Computertomogramm (CCT) festgestellt [7, 13]. Je tiefer der GCS, desto grösser die Häufigkeit der intrakraniellen Verletzung [7]. Akute epi- und subdurale Blutungen, die einer neurochirurgischen Intervention bedürfen, sind zwar selten (ca. 1% aller LTHV-Verletzten), aber von besonders hoher Relevanz für die Prognose und den einzuschlagenden Behandlungsweg. Das intrakranielle Blutungsrisiko korreliert zusätzlich zum GCS mit Risikofaktoren wie z.B. dem Alter, der Einnahme von Antikoagulantien und einem pathologischen Neurostatus. Die aktuellen Empfehlungen nutzen diese Erkenntnis, indem sie die Indikation zur Durchführung eines CCT und zur stationären Überwachung im Spital vom Glasgow Coma Score einerseits sowie dem Vorliegen dieser Risikofaktoren andererseits abhängig machen. Das elektronisch bearbeitbare PDF-Formular mit dem Titel «Erstdiagnostik/Erstdokumentation für Erwachsene LTHV» ist in den drei Landessprachen verfügbar [11, 12] und dient sowohl als Dokumentationsbogen als auch Entscheidungsalgorithmus für die Erstversorgung von Erwachsenen nach einer LTHV. Die Verwendung kann als Tarifposition 00.2215 des TARMED den UVG-Versicherern in Rechnung gestellt werden.

Leitlinienbasiertes Vorgehen in der Post­akutversorgung

Die meisten Verunfallten werden innerhalb von Tagen oder Wochen nach einer LTHV beschwerdefrei. Das Chronifizierungsrisiko für über mehrere Monate persistierende Beschwerden liegt allerdings bei ca. 10–15% der Betroffenen [14]. Bekannte Risikofaktoren sind ­unter anderem das Ausmass der initialen posttraumatischen Beschwerden, Stress, vorbestehende psychische und psychiatrische Störungen und das Alter [15]. Medizinische Aufklärung über das Störungsbild in der Frühphase nach dem Trauma verbessert die Prognose [16], demgegenüber erhöht eine inadäquate medizi­nische Aufklärung das Chronifizierungsrisiko [17]. Es wird deshal­b empfohlen, die Verunfallten in der Akutsituation mittels schriftlichen Material aufzuklären. Die Schweizer Unfallversicherer stellen solches bereit [18].
Ergänzend zur Aufklärung in der Akutsituation trägt ein ärztlicher Kontrolltermin in den 14 Tagen nach dem Trauma zur Reduktion der Symptomschwere und sozialer Beeinträchtigungen bei [19]. Er ist deshalb für alle Verunfallten empfohlen. Kommt es anschliessend nicht innerhalb einer angemessenen Zeit zu einem Abklingen der Beschwerden, empfiehlt sich eine weitere fachspezifische neurologische Diagnostik. Dieser kann sich eine individualisierte Behandlung anschliessen.
Häufig rezidivierende leichte traumatische Hirnverletzungen erhöhen das Risiko für kognitive Beeinträchtigungen und das Auftreten psychiatrischer Störungen bei einigen Betroffenen. Inzidenz und Ausmass sind ­Gegenstand der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion [20].

Das Wichtigste in Kürze

• Die Leichte Traumatische Hirnverletzung (LTHV) ist die am häufigsten vorkommende Form traumatischer Hirnver­letzungen. Sie betrifft jährlich ca. 25 000 Personen in der Schweiz. Sie wird klinisch vor allem anhand von qualitativen Bewusstseinsstörungen diagnostiziert.
• Die leitlinienbasierte Diagnostik und Therapie ermöglicht die frühzeitige Erkennung von interventionsbedürftigen intrakraniellen Komplikationen und reduziert das Risiko der Chronifizierung von Beschwerden.
• Das elektronisch bearbeitbare PDF-Formular «Erstdiagnostik/Erstdokumentation für Erwachsene LTHV» von Suva und SVV unterstützt ein leitliniengerechtes Management und kann als Tarifposition 00.2215 des TARMED den UVG-Versicherern in Rechnung gestellt werden.

L’essentiel en bref

• Le traumatisme cranio-cérébral mineur MTBI est la forme la plus courante de lésion cérébrale traumatique. Il touche environ 25 000 personnes tous les ans en Suisse. Le diagnostic clinique est essentiellement basé sur les troubles qualitatifs de la conscience.
• Suivre les directives pour le diagnostic et le traitement permet d’identifier rapidement les complications intracrâniennes nécessitant une intervention et réduit le risque de chronicité des symptômes.
• Le formulaire PDF, éditable au format électronique, de la Suva et de l’ASA, «Erstdiagnostik/Erstdokumentation für Erwachsene LTHV» (premier diagnostic et première documentation concernant le MTBI chez les adultes), sert de base pour une gestion conforme aux directives et peut être facturé aux assurés LAA suivant la position tarifaire 00.2215 du TARMED.
Sönke Johannes war bis 2018 als Medizinischer Direktor der ­Reha­klinik Bellikon der Suva ­tätig.
Holger Schmidt ist Mitarbeiter am Kompetenzzentrum ­Versicherungsmedizin der Suva.
Prof. Dr. med. Sönke ­Johannes
Chefarzt
RehaClinic Limmattal
und Sonnmatt Luzern
Urdorferstrasse 100
CH-8952 Schlieren
s.johannes[at]rehaclinic.ch
 1 Vos PE, Alekseenko Y, Battistin L, Ehler E, Gerstenbrand F, Muresanu DF, et al. Mild traumatic brain injury. Eur J Neurol. 2012;19(2):191–8.
 2 West TA, Marion DW. Current recommendations for the diagnosis and treatment of concussion in sport: a comparison of three new guidelines. J Neurotrauma. 2014;31(2):159–68.
 3 Harmon KG, Clugston JR, Dec K, Hainline B, Herring SA, Kane S, et al. American Medical Society for Sports Medicine Position Statement on Concussion in Sport. Clinical Journal of Sport Medicine. 2019;29(2):87–100.
 4 King NS. ‘Mild Traumatic Brain Injury’ and ‘Sport-related Concussion’: Different languages and mixed messages? Brain Inj. 2019;33(12):1556–63.
 5 Sammelstelle für die Statistik der Unfallversicherung (SSUV). Internet: https://www.unfallstatistik.ch/eingesehen Oktober 2019.
 6 Vos PE, Battistin L, Birbamer G, Gerstenbrand F, Potapov A, Prevec T, et al. EFNS guideline on mild traumatic brain injury: report of an EFNS task force. Eur J Neurol. 2002;9(3):207–19.
 7 Smits M, Dippel DW, Steyerberg EW, de Haan GG, Dekker HM, Vos PE, et al. Predicting intracranial traumatic findings on computed tomography in patients with minor head injury: the CHIP prediction rule. Ann Intern Med. 2007;146(6):397–405.
 8 Lumba-Brown A, Teramoto M, Bloom OJ, Brody D, Chesnutt J, Clugston JR, et al. Concussion Guidelines Step 2: Evidence for Subtype Classification. Neurosurgery. 2019.
 9 Johannes S, Schaumann-von Storsch R. Leichte traumatische Hirnverletzung: Empfehlungen für die Akutversorgung. Suva Medical. 2010:160–74.
10 Schmidt H, Johannes S, Schaumann-von Storsch R. Leichte Traumatische Hirnverletzung – Ersterfassung. Suva Medical. 2016:184–90.
11 Johannes S, Schmidt H. Suva Erstdiagnostik/Erstdokumentation für Erwachsene LTHV: Schweizerische Unfallversicherung Suva; 2018. Internet: https://www.suva.ch/de-CH/material/tools-tests/formular-erstdiagnostik-lthv
12 Johannes S, Schmidt H. SVV Erstdiagnostik/Erstdokumentation für Erwachsene LTHV: Schweizerischer Versicherungsverband SVV; 2018. Internet: https://www.svv.ch/sites/default/files/2018-03/Formular_Erstdiagnostik_LTHV-DE.PDF
13 Albers CE, von Allmen M, Evangelopoulos DS, Zisakis AK, Zimmermann H, Exadaktylos AK. What is the incidence of intracranial bleeding in patients with mild traumatic brain injury? A retrospective study in 3088 Canadian CT head rule patients. Biomed Res Int. 2013;2013:453978.
14 Alexander MP. Mild traumatic brain injury: pathophysiology, natural history, and clinical management. Neurology. 1995;45(7):1253–60.
15 van der Naalt J, Timmerman ME, de Koning ME, van der Horn HJ, Scheenen ME, Jacobs B, et al. Early predictors of outcome after mild traumatic brain injury (UPFRONT): an observational cohort study. Lancet Neurol. 2017;16(7):532–40.
16 Jagoda AS. Mild traumatic brain injury: key decisions in acue management. Psychiatr Clin North Am. 2010;33(4):797–806.
17 Ponsford J, Nguyen S, Downing M, Bosch M, McKenzie JE, Turner S, et al. Factors associated with persistent post-concussion symptoms following mild traumatic brain injury in adults. J Rehabil Med. 2019;51(1):32–9.
18 Johannes S, Schaumann-von Storsch R. Informationsblatt LTHV; 2010. Internet: https://www.suva.ch/de-CH/material/Factsheets/informationsblatt-lthv
19 Vos PE, Alekseenko Y, Battistin L, Ehler E, Gerstenbrand F, Muresanu DF, et al. Mild traumatic brain injury. Eur J Neurol. 2012;19(2):191–8.
20 Manley G, Gardner AJ, Schneider KJ, Guskiewicz KM, Bailes J, Cantu RC, et al. A systematic review of potential long-term effects of sport-related concussion. Br J Sports Med. 2017;51(12):969–77.