Emissionshandel

Risiko-Arithmetik

Horizonte
Édition
2020/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2020.18392
Bull Med Suisses. 2020;101(2122):720

Affiliations
Dr. med.

Publié le 20.05.2020

Ein Ablassbrief und ein Emissionszertifikat haben ­vieles gemeinsam. Beide sind ein Geschäft mit dem schlechten Gewissen, beide sind eine Risikoversicherung zum Erhalt des Seelenfriedens. Der Sündenablass des Mittelalters war eine Investition ins Jenseits, der Emissionshandel der Gegenwart verspricht mit CO2-Abgaben eine erträgliche Zukunft. Dantes Inferno und die Bilder des Hieronymus Bosch sind die bekanntesten Beispiele für ein Purgatorium, dem sich nur die Heiligen entziehen können. Ablasskampagnen hatten eine lange Tradition, vom ersten Kreuzzug bis zum Neubau des Petersdoms in Rom. Ein gutes Marketingkonzept, eine geniale Verbindung von Seelsorge mit Geldpolitik, die Gläubige entlastete und die dank der ­Bauwut der Renaissance-Päpste unzählige Touristen in die Ewige Stadt lockte.
Die Grundidee, einen Markt für Verschmutzungsrechte einzurichten, wurde in den 1960er Jahren in den USA ent­wickelt. Ein prosaischer Gedanke, abgesegnet von internationalen Protokollen und zähen, nationalen Verhandlungen. Als Instrument der Umweltpolitik wurde das Handelssystem 2008 in der Schweiz eingerichtet. Ein verschärftes CO2-Gesetz wurde vor ­einem Jahr im Parlament abgelehnt.
Eine neue Technologie hat damals wie heute die Kommerzialisierung beschleunigt. Ohne Gutenbergs Er­findung des Buchdrucks wäre das weltumspannende Finanzimperium der Kirche kaum möglich gewesen. Ohne Digitalisierung wären die komplizierten Regelmechanismen des CO2-Handels nicht machbar. Die Berechnung einer Klimagebühr für Flugreisende oder die Umsetzung von Kompensationsprojekten im Ausland ist aufwendig und bei vielen Anbietern wenig transparent. Un­gefähr 1500 Projekte laufen in 80 Ländern, die rund 100 Millionen Tonnen CO2 einsparen sollen. Das entspricht in etwa dem Schweizer Ausstoss von zwei Jahren. Gestritten wird um den Inlandanteil am Reduk­tionsziel. Je kleiner dieser Teil definiert wird, desto weni­ger Innovationen und desto unwahrscheinlicher, dass wir unsere Gewohnheiten ändern.
Ein Wasserkraftwerk in Honduras oder ein Aufforstungsprojekt in Peru betreffen uns nicht persönlich. Obwohl Herr und Frau Schweizer drei Mal mehr fliegen als ­EU-Bürger, dürfen sie mit gutem Gewissen weiterfliegen. Eine Fünfer-und-Weggli-Mentalität. In Deutschland kann man zudem Ökopunkte sammeln. Für jede zubetonierte Fläche werden Minus-Ökopunkte verrechnet, die mit den Bonuspunkten aus einer Rena­turierung abge­mildert werden. Ein kompliziertes System, das die meisten Umweltschutzämter überfordert. An der ­Alpentransitbörse werden Durchfahrtsrechte versteigert, Schulklassen, die sich für Biodiversität einsetzen, sammeln bei uns Pluspunkte.
Einst hiess es: «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt.» Der Spruch wird, wahrscheinlich zu Unrecht, dem Dominikaner ­Johannes Tetzel zugeschrieben. Luther kam der übereifrige Or­ganisator ganz gelegen. Die Reformation machte aus dem Ablasshandel ein wirksames Kampfmittel gegen die Kurie Roms.
Klimapunkte für kleinräumige Projekte sind ein wichtiges pädagogisches Mittel. Ob der globale Handel mit rein marktwirtschaftlichen Mitteln seine Ziele er­reichen kann, ist bisher nicht belegt. Vorläufig gibt es keine Hinweise, dass Wälder besser geschützt wären oder die Meere weniger ausgebeutet würden. Die erhoffte Bonanza der Arktis verspricht nichts Gutes. Der Aufenthalt im Fegefeuer war qualvoll, aber befristet und endete stets mit dem Übertritt ins Paradies. Von unserer Frist können wir uns nicht loskaufen, und was ­danach kommt, ist vermutlich weniger paradiesisch.
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