Number needed to harm – das Anordnungsmodell als Risiko

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/50
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18430
Bull Med Suisses. 2019;100(50):1705

Publié le 10.12.2019

Number needed to harm – das ­Anordnungsmodell als Risiko

Herr Hüsler kann paraphrasiert werden: Es gibt kaum ein Krankheitsgeschehen, das nicht auch unter dem Aspekt körperlicher ­Beeinträchtigung gesehen werden muss. Oder: Mens sana in corpore sano.
Fachärzte für Psychotherapie und Psychiatrie werden grossmehrheitlich direkt von Patient­Innen konsultiert, sind also Grundversorger. Nicht selten muss der psychotherapeutische Facharzt eine Konsultation beim Hausarzt empfehlen: So wird der Facharzt zum Grundversorger und der Hausarzt zum Spezialisten.
Herr Hüsler vermeint, die psychisch bedeutsamen körperlichen Prozesse auf die Hirnfunktionen reduzieren zu können. Es gibt kaum eine körperliche Funktion, die nicht Einfluss auf die Psyche hat, sowohl patho- wie salutogenetisch. Die Fachärztin für Psychotherapie wird im aktuellen Moment der Äus­serung die scheinbar psychischen Beschwerden einordnen können – in Echtzeit, ohne den Umweg einer multiprofessionellen Zusammenarbeit. Die Fachärztin für Psychotherapie kann mehrmals während einer Behandlungssitzung zur Fachärztin für Psychiatrie werden! Die Individualität des Einzelnen zeigt sich bei «rein» psychosozialen Ereignissen (Arbeitslosigkeit, Scheidung, finanziellen ­Nöten) eben auch im Stoffwechsel, nicht nur in der Lebensgeschichte (Psychologie) und ­Genetik (Biologie). Deswegen braucht es eine soziopsychobiologische Ausbildung, die der Psychologie abgeht. Sozialisation zum Psychologieberuf bringt eine Vernachlässigung der biologischen Determinanten der psychischen Gesundheit mit sich. Das wurde mir neulich erneut bestätigt: von Seiten eines Psychologen, trotz jahrelanger Anstellung auf eine­r medizinischen Abteilung.
Die wissenschaftliche Kritik der Psychopharmakotherapie ist selbstverständlicher Prozess der klinischen Evaluation (Indikation, Toxikologie, neue Wirkstoffe u.w.). Herr Hüsler ist bereit, als Psychologe und Jurist fachfremde Kritik an der «Psychomedikation» zu üben, verschweigt aber, dass der Beweis der Überlegenheit der Psychotherapie gegenüber ­einem Psychtherapieplacebo noch nicht ge­lungen ist und uns vor sehr schwierige Pro­bleme stellt [1].Wir müssen an die unerwünschten Wirkungen der Lockerung der Kooperation zwischen Arzt und Psychologe denken im Sinne des «Number needed to harm»: Wie viele inadäquate Behandlungen biologisch (teil)verursachter oder beeinflusster psychischer Leiden wollen wir in Kauf nehmen, damit eine Berufsgruppe statusmässig besser­gestellt wird? Ist eine vielleicht kürzere Wartefrist wirklich diese Gefahr für die Qualität und Dauer bestehender Behandlungen – inkl. der delegierten Psychotherapie! – wert?
Was ist denn so schlimm an der delegierten Psychotherapie? Was bedeutet denn gleiche Augenhöhe bei verschiedenen Ausbildungen?
Die Hausärzte sollen mit dem Anordnungsmodell die Fachpsychologen wie andere Fachärzte beiziehen können. Da outet sich Herr Hüsler: Er sieht keinen Unterschied zwischen einem Fachpsychologen (für Psychotherapie) und einem Facharzt (für Psychotherapie). Wünscht er, in die Gemeinschaft der Fachärzte aufgenommen zu werden? Leider bezieht der mfe/Haus- und Kinderärzte Schweiz z.H. des Bundesrats eine ähnliche Position (meine Hervorhebung): «In Situationen, in dene­n höhere Kompetenzen im Bereich der psychischen Gesundheit erforderlich sind, können die Haus- und Kinderärzte ihre Patientinnen und Patienten einem Psychiater zuweisen oder eine Therapie bei einem psychologischen Psychotherapeuten verordnen.» Auch der mfe scheint die Fachpsychologen als Fachärzte misszuverstehen. Das, und die falsche Wiedergabe unseres Facharzttitels, lässt schon etwas an der Kollegialität zweifeln.
Im Übrigen erlaubt sich das Bundesgericht immer wieder «eine Revision der Praxis». 1981 war wirklich noch eine Zeit, in der über das Primat des Biologischen oder des Psychologischen gestritten wurde.