Es existiert keine Freiheit, andere zu schädigen

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18344
Bull Med Suisses. 2019;100(44):1456-1457

Publié le 29.10.2019

Es existiert keine Freiheit, ­andere zu schädigen

Als Leiter vom Schwerpunkt für Geschlechtervarianz bin ich dankbar, dass sich die SÄZ um die Fragestellung, wie unsere Sprache ­geschlechtergerecht weiterentwickelt werden könnte, kümmert. Es ist selten, dass sich ein medizinisches Fachorgan zu dieser Thematik äussert, die an unserem Zentrum an der ­Tagesordnung steht. Umso enttäuschender ist jedoch die Tatsache, mit welcher Unterkomplexität diese für den medizinischen Alltag wichtige Materie bisher behandelt wurde.
Sowohl in der Kolumne von Taverna als auch im Brief von Jakob wird die Notwendigkeit einer geschlechtergerechten Gestaltung unserer Sprache als «kämpferischer Feminismus» bzw. als «Lappalie» diffamiert. Es werden lustige Wortspiele durchexerziert und die Verantwortung für die sprachliche Umgestaltung einer utopischen Instanz wie «der Literatur» abdelegiert. Die Kollegen verweisen damit dieses Thema ins Exotische bzw. in eine Irrelevanz jenseits unseres klinischen oder Forschungsalltags.
Im Wissen um den von Taverna richtig erkannten «Machtkampf» und seine Einladung, sich konstruktiv an der Lösung dieses Pro­blems zu beteiligen, schalte ich mich mit folgenden Fakten in die Diskussion ein:
1. Grundsätzlich ist Taverna zuzustimmen, wenn er davon ausgeht, dass unsere Vorstellungen durch die Sprache entscheidend geprägt werden. Das gilt insbesondere für die Entwicklung und Festigung aller unserer (Geschlechts-, Arbeits-, nationalen etc.) Identitäten. Wir sind nicht nur diejenigen, die wir sind, weil wir das behaupten, sondern in erster Linie, weil unser Umfeld uns das auch so reflektiert. Diese psychologische Theorie der sozialen Identitätenkonstruktion ist nichts Neues in der Medizin. Daher ist es schon ­erstaunlich, dass die berechtigte Forderung von Minderheiten (z.B. Frauen, Transpersonen), im interpersonellen bzw. im institutionellen Kontext sozial korrekt widerspiegelt zu werden, als «kämpferisch» dargestellt und nicht als wichtige Voraussetzung, damit diese Gruppen ihre legitime soziale Stellung einnehmen können, definiert wird.
2. Die Bagatellisierung der Frage nach einer geschlechtersensitiven Sprache missachtet zudem eine weitere Binsenwahrheit: Wörter dienen nicht nur der friedlichen Kommunikation. Sie werden häufig auch als Waffen ein­gesetzt. Gerade Geschlechterminderheiten ­werden in jedem erdenklichen Winkel ihres Alltags diskriminiert, was zu massiven psychischen und sozialen Schäden führt. Mehr noch: Die Tatsache, nicht in der erlebten Geschlechtskategorie klassifiziert zu werden, korreliert bei Transpersonen in signifikantem Ausmass mit der Entwicklung einer depressiven Störung. Diese Realitäten sind keine «Lappalien» von «Menschen, denen es langweilig ist und die ansonsten keine Probleme haben», sondern gerade das Gegenteil trifft zu: Das ­Leben von Transpersonen ist voller Schwierigkeiten, und ihre (sprach-)symbolische Aus­löschung bzw. ihr «Missgendering» ist einer der gefährlichsten Diskriminierungsmechanismen, denen sie unterliegen.
Die Frage nach einer gerechten Sprache geht uns alle an – und zwar nicht nur aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit. Wie in anderen medizinischen Bereichen (z.B. Tabakprävention) ist es unsere Verantwortung – und nicht etwa diejenige der Literatur –, der Gesellschaft klarzumachen, dass weder ein noch so sensi­bles Sprachgefühl noch eine ausgeklügelte Freiheitsdefinition eine körperliche, psychische bzw. soziale Schädigung anderer Menschen rechtfertigt.